Einführung in das islamische Menschenbild

Menschenrechte und Menschenwürde

Der Mensch ist aus der Sicht des Islam mehr als nur ein Geschöpf. Seine Existenz an sich stellt für ihn weder Vorzug noch besondere Ehre dar, denn diese Eigenschaft teilt er mit anderen Geschöpfen, aber ihm schreibt der Heilige Qur’an in Sure Al-Isra’, Vers 70, eine besondere Würde zu, wo es heißt, dass die Kinder Adams geehrt wurden.Würde und Edelmut sind spezielle Eigenschaften des Menschen, die kein anderes Wesen besitzt, und wodurch er sogar den Engeln Gottes überlegen ist. Die Niederwerfung der Engel vor dem Menschen am Anfang seiner Schöpfung symbolisiert diese Überlegenheit und Erhabenheit. Die Verse 73 und 74 der Sure Ra`d bringen dies zum Ausdruck, wo es heißt, dass dem Menschen der Geist Gottes eingehaucht wurde und die Engel sich anschließend vor dem Menschen niederwarfen.
Die Würde des Menschen ist nicht nur ein Recht wie alle anderen Rechte, beispielsweise das Recht auf Leben, Wohnung usw., sondern sie macht seine essentielle Identität und existentielle Natur aus. Deshalb steht die Würde des Menschen für nichts anderes als seine Menschlichkeit, denn jeder besitzt unabhängig von Gedanken, Glauben, Religion usw. eine bestimmte Würde. In dem zuvor erwähnten Qur’Ánvers bezeichnet Gott die Kinder Adams als würdige Wesen und behält diese Eigenschaft nicht den Gläubigen, den Muslimen oder Anhängern anderer Religionen vor. Würde ist somit eine allen Menschen gemeinsame Eigenschaft, von der niemand ausgeschlossen werden kann. Aus diesem Grund bezeichnet der Qur’an den Schutz der Würde und Ehre eines Menschen als das Bewahren der Würde aller Menschen und stellt in Sure al-Ma’ida, Vers 32 fest, dass wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, es so ist, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.
 Aus qur’anischer Sicht ist die Auszeichnung eines Menschen keine individuelle Angelegenheit, sondern sie impliziert vielmehr die Auszeichnung der menschlichen Würde allgemein und somit aller Menschen. Der Islam kategorisiert die Menschen nicht auf der Grundlage ihrer Überzeugungen, Gedanken, Nationalität, Religion oder ihres Geschlechts. Im Islam gibt es keinen erstklassigen oder zweitklassigen Menschen. Alle Menschen, ob Mann oder Frau, Muslim oder Nichtmuslim, weiß oder schwarz, sind in ihrem Menschsein gleich und genießen die gleichen Rechte. Keine Rasse ist einer anderen überlegen.
Vers 13 der Sure al-Hujurat ist zu entnehmen, dass die Rasse kein Maßstab für die Würde des Menschen ist, denn Gott spricht, dass die Menschen als Mann und Frau erschaffen und zu Völker und Stämmen gemacht wurden, damit sie einander kennen lernen.
Ein Muslim trägt gegenüber anderen Muslimen bestimmte Verantwortungen, die seiner Verantwortung gegenüber Menschen anderer Religionen und Nationalitäten keineswegs widersprechen. Kommt ein Muslim seinen Pflichten gegenüber anderen Muslimen nicht nach, so begeht er eine Sünde; und gleichermaßen sündhaft handelt er, wenn er seinen Pflichten gegenüber Andersgläubigen und selbst Ungläubigen nicht nachkommt. Gott wird ihn dafür tadeln und bestrafen.
Aus islamischer Sicht sind die Menschlichkeit und die auf ihr gründenden ethischen Werte die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Beziehungen in einer Gesellschaft. In den islamischen Überlieferungen findet man viele Belege für diese Ansicht. Bu¿ÁrÍ zitiert die Überlieferung von Jaber ibn Abdullh Ansari: „Eines Tages wurde vor Prophet Muhammad (k) die Leiche eines Juden weggetragen. Der Prophet bezeugte dem Leichnam seinen Respekt. Ein Muslim sagte zum Propheten: ‚O Gesandter Allahs, dies ist die Leiche eines Juden!’ Der Prophet antwortete ihm: ‚Ist er denn kein Mensch?’“

Der Qur’an lehrt uns, dass die Menschen aber trotz ihrer prinzipiellen Gleichheit einen unterschiedlichen Rang bei Gott haben können. Die natürlichen Rechte des Menschen gründen in seiner Würde und menschlichen Natur, und religiöse, geschlechtliche oder andere Unterschiede ändern nichts an dieser Tatsache. Der Mensch hat ein Recht auf Leben, weil er Mensch ist, und nicht weil er Muslim, Christ oder Jude, schwarz oder weiß, Perser, Araber oder Europäer ist. Sein Menschsein impliziert das Recht auf Freiheit, Entscheidungsfreiheit, Arbeit, Wohnung, usw. Die verschiedenen Bedeutungen, die dem Begriff „Recht“ beigemessen werden können, außer Acht lassend, müssen wir im Zusammenhang mit dem Begriff „Men-schenrechte“ bedenken, dass diese von niemandem erfunden oder per Gesetz verordnet werden können, sondern für das Sein und die Identität des Menschen essentiell sind. Freiheit ist beispielsweise eine Realität, die sich in der Seinsform des Menschen manifestiert, d. h. der Mensch fühlt in seinem Innersten ein Bedürfnis nach Freiheit, ohne dass jemand dieses Bedürfnis in ihm weckt. Jeder Mensch hasst Vernichtung und Tod und folglich hat er ein Recht auf Leben.
Gleichfalls gehören die Rechte auf Sicherheit, Arbeit und Wohnung zu den menschlichen Grundrechten, denn jeder möchte in Ruhe und Wohlstand leben. Die Ablehnung von Zwang und Gewalt und der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben impliziert das Recht auf Meinungsfreiheit, Redefreiheit und Religionsfreiheit des Einzelnen. Der Islam erkennt jedes dieser Bedürfnisse an, akzeptiert sie ausnahmslos und fordert vom Menschen unter keinen Umständen den Verzicht auf eines dieser natürlichen und essentiellen Bedürfnisse. Jedes dem Menschen innewohnende Bedürfnis ist akzeptabel und gerechtfertigt, gleich ob es sich auf individuelle, gesellschaftliche, materielle, geistige oder sinnliche Bedürfnisse bezieht.
Aus islamischer Sicht vernachlässigt ein Mensch, der auch nur eines seiner Bedürfnisse nicht erfüllt - selbst wenn es rein materieller oder sinnlicher Natur ist - einen Teil seiner Menschlichkeit und seines Seins, denn wäre dieser Aspekt der menschlichen Natur nicht notwendig, hätte Gott den Menschen anders erschaffen. Aus der Tatsache, dass Gott den Menschen mit dieser natürlichen Veranlagung und Bedürftigkeit erschaffen hat, resultiert die Rechtmäßigkeit und Zulässigkeit aller derartigen Bedürfnisse, die jedoch nur im Rahmen einer friedlichen Atmosphäre befriedigt werden können. Alle Individuen einer Gesellschaft haben das gleiche Recht auf Freiheit, und das bedingt, dass der Einzelne nicht nur seine eigene individuelle Freiheit sieht, sondern dieses Recht im gleichen Maße auch seinen Mitmenschen zugesteht, d. h. die Erkenntnis, dass die eigene Freiheit keine Verletzung oder Beeinträchtigung der Freiheit der Anderen verursachen darf.
Gleiches gilt für die innersten Bedürfnisse des Menschen. Wenn aus der Fülle der menschlichen Neigungen auch nur eine übermäßig verfolgt wird, werden andere zweitrangig und letztlich nicht erfüllt, wodurch der Mensch sich nur selbst schadet. Die Missachtung der eigenen Bedürfnisse und sich selbst damit Unrecht zuzufügen gereicht dem Einzelnen ebenso zu Schaden wie jede Form der Unterdrückung der Gesellschaft, allerdings mit dem Unterschied, dass Unterdrückung als Vergehen angesehen und strafrechtlich sanktioniert wird, während eine Handlung, mit der man sich selbst schadet, eine individuelle Angelegenheit ist.
Die wesentliche Botschaft des Islam und der anderen himmlischen Religionen besteht in der Forderung, die inneren und natürlichen Bedürfnisse zu erfüllen und zwar so, dass keines dieser Bedürfnisse unerfüllt bleibt oder unterdrückt wird. Darin liegt der grundlegende Unterschied zwischen dem islamischen Denken und dem atheistischen Menschenbild, das im Westen verbreitet ist. Das islamische Verständnis von Unterdrückung (ãulm) ist nicht nur auf andere bezogen, sondern beinhaltet auch die Unterdrückung des eigenen Selbst, wie Imam Ali (o) in seinem Kumayl-Bittgebet mit den Worten „Oh mein Gott, ich habe mir selbst geschadet,“ zum Ausdruck brachte.
Wer seine sinnlichen Bedürfnisse überbewertet oder sich z. B. Gefräßigkeit oder Machtstreben hingibt, missachtet seine anderen menschlichen Bedürfnisse und tritt seine eigenen Rechte mit Füßen. Andererseits gilt aber auch derjenige, der seine materiellen Bedürfnisse nicht würdigt, alle materiellen weltlichen Genüsse ablehnt und nur seinen geistigen Neigungen folgt, aus islamischer Sicht gleichfalls als Sünder an sich selbst. Folglich gebietet der Islam das Streben nach Mittelmaß, das allein ein harmonisches Zusammenspiel aller Kräfte, Neigungen und Bedürfnisse des Menschen ermöglicht. Wer diese Harmonie in sich realisieren kann, gilt aus islamischer Sicht als vollkommen. Alle Gebote und Verbote des Islam zielen auf dieses harmonische Mittelmaß ab, und zwar äußerlich, indem der Mensch daran gehindert wird, die Rechte anderer zu verletzen und eine radikale soziopolitische Atmosphäre zu schaffen, und zweitens innerlich, indem er sich selbst vor Übertretung, Übertreibung und „moralischem Radikalismus“ bewahrt. Mit Radikalismus ist jedes individuelle und gesellschaftliche Handeln gemeint, das einen Absolutheitsanspruch erhebt und Vielfalt und jeder Art von Pluralismus abträglich ist. Wer seine verschiedenen Dimensionen und Bedürfnisse in sich selbst nicht auf einen Nenner bringen kann, wird auch auf gesellschaftlicher Ebene die Rechte seiner Mitmenschen nur schwerlich respektieren. Jede Form von Radikalismus, gleich ob er auf persönlicher und ethischer oder auf gesellschaftlicher und politischer Ebene praktiziert wird, lehnt der Islam ab.

Die vorausgegangenen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass das dem Menschen inhärente Bedürfnis nach einem harmonischen Gleichgewicht seiner materiellen und spirituellen Bedürfnisse die Voraussetzung für sein individuelles wie auch das gesellschaftliche Wohlergehen ist. Der Islam respektiert diese Natur und weist dem Menschen mit seiner Lehre und Botschaft den Weg, denn wer außer dem Schöpfer, der die Eigenheiten und Wesensmerkmale des Menschen kennt, könnte einen besseren Weg zu einem harmonischen und ausgeglichenen Leben weisen? Dafür hat Gott den Menschen mit Vernunft begabt, Propheten entsandt und Heilige Schriften offenbart und ihm die Freiheit der Zustimmung oder Ablehnung gewährt. Ziel des Islam ist es, den Menschen so zu erziehen, dass er zum Menschen wird, d. h. seiner Würde als Mensch gerecht wird.

Ein Muslim ist in erster Linie ein Mensch, und wenn er seine Würde und Verantwortung als Mensch nicht realisieren kann, entfernt er sich dadurch vom Islam. Mittelmaß und Rationalität kennzeichnen somit nicht nur den Islam, sondern auch den wahren Muslim.

In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass alle Menschenrechte - gegenüber den Anderen und auch gegenüber sich selbst - beachtet werden müssen. Im Unterschied zu materialistischen Denkschulen impliziert das islamische Menschenbild die kompromisslose Realisierung dieser Rechte, das bedeutet: es genügt nicht, in Konventionen, Protokollen und dgl. die Freiheit und Sicherheit des Menschen zu betonen, sondern vielmehr müssen die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Rechte geschaffen und auch die Menschen selbst aufgefordert werden, ihre Rechte einzufordern und zu praktizieren, denn viele Menschen kennen ihre Rechte nicht und setzen sich folglich auch nicht dafür ein. Wer sich seines Rechts auf Leben nicht bewusst ist, dem fällt es vielleicht leichter, dieses aufzugeben, als jemand, der sein Recht kennt. Wer sich seines Rechts auf Freiheit und Sicherheit nicht bewusst ist, wird sich eher mit Diktatur und Unrecht abfinden als jemand, der sich dieser Rechte bewusst ist. In diesem Zusammenhang gewinnt der Begriff Pflicht an Bedeutung, denn aus islamischer Sicht hat der Mensch nicht nur das Recht, frei zu leben, sondern sogar die Pflicht, sein Leben frei zu gestalten, und diese Verpflichtung wird ihn dahingehend motivieren, dass er sich für diese Rechte einsetzt. Würde der Islam nur von Rechten sprechen, sich aber nicht für deren Realisierung einsetzen, wäre dies ein sinnloses Unterfangen, gleich einem Menschen, der ein Auto besitzt, es aber nie gebraucht und damit demjenigen gleicht, der überhaupt kein Auto besitzt.

Die größten gesellschaftlichen Probleme und politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Krisen und Tragödien gründen einerseits im mangelnden Engagement der Menschen für ihre Rechte und zum anderen in der Missachtung dieser Rechte durch andere. Demnach gilt aus der Sicht des Islam nicht nur derjenige als Sünder, der die Rechte anderer verletzt, sondern auch derjenige, der sie nicht einfordert und somit den Machthabern den Missbrauch dieser Rechte ermöglicht, denn im ersten Fall werden andere unterdrückt und im zweiten Fall unterdrückt man sich selbst, wobei jedoch die Unterdrückung anderer nicht nur als Vergehen und Sünde angesehen wird, sondern sogar als Verbrechen gilt. Diktatoren, die im Laufe der Geschichte das Recht der Menschen auf Leben und Freiheit missachtet haben, sind nicht nur Sünder, die sich vor Gott verantworten müssen, sondern auch Verbrecher, die für ihre Taten bestraft werden müssen.

 Wer hingegen seine Rechte nicht eingefordert und anderen dadurch die Möglichkeit zu Unterdrückung geboten hat, ist zwar ein Sünder, aber kein Verbrecher; der Sünder muss sich nur vor Gott rechtfertigen und erhält eine jenseitige Strafe, während der Verbrecher darüber hinaus eine Strafe nach dem weltlichen Gesetz erhalten muss.

Hier stellt sich die Frage, wie man Freiheit und Pflicht vereinen kann, denn der Islam betont einerseits die Freiheit des Menschen und die Menschenrechte, andererseits verbindet er aber jede Freiheit auch mit einer Pflicht, was manch einem durchaus als paradox erscheinen mag. Zum einen wird dem Menschen gesagt: „Du hast das Recht, so zu leben, wie du möchtest!“ und zum anderen wird ihm die Pflicht auferlegt: „Es steht dir nicht frei, auf deine Freiheit zu verzichten!“ Liegt darin kein Widerspruch?
Zur Beantwortung der Frage müssen wir die Begriffe „Zwang“ und „Verpflichtung“ erläutern, die meist als Gegensatz von „Freiheit“ und „Eigenwillen“ angeführt werden. Verpflichtung impliziert eine Notwendigkeit, ein „Muss“ ohne jedoch unbedingt mit Zwang einherzugehen. Dass beispielsweise 2+2=4 ist, stellt ein notwendiges Muss dar, das nicht geleugnet werden kann, ohne dass es irgendeinen Zwang impliziert. Eine solche Verpflichtung basiert auf einer logischen Argumentation, der die menschliche Ratio folgen kann. Jemand, der diese verbindliche Aussage nicht akzeptiert, ist kein Verbrecher, obgleich ihn niemand zur Akzeptanz dieses Grundsatzes zwingen kann und er sich nur vor seinem eigenen Verstand rechtfertigen muss. Jeder rationale philosophische oder mathematische Grundsatz schließt eine solche vom menschlichen Verstand zu bejahende Verpflichtung ein, stellt sozusagen eine „geistige Verpflichtung“ dar, die den Menschen niemals seiner Entscheidungsfreiheit beraubt, sondern ihn vielmehr ermächtigt, die seinem Verstand als beste erscheinende Entscheidung zu wählen. Abgesehen von dieser rationalen Verpflichtung sieht er sich einer konkreten äußeren Verpflichtung gegenüber, die mit der Aufhebung seiner Freiheit und Willensentscheidung verbunden ist und mit Zwang einhergeht.

Folglich schließen sich Zwang und Freiheit einander aus. Die geistige Verpflichtung entspricht nicht nur der Freiheit, sie fördert diese sogar noch und ruft im Menschen den Wunsch nach einer richtigen Wahl hervor. Die religiösen Pflichten sind ausnahmslos geistige Verpflichtungen. Wenn der Islam den Menschen dazu verpflichtet, die Rechte der anderen und seine eigene Freiheit zu respektieren, dann ist dies eine geistige Verpflichtung, die keinesfalls aus Zwang und äußerem Druck resultiert, sondern auf der Grundlage der Vernunft realisiert werden soll.

Jeder rationale Mensch kann die Richtigkeit der religiösen Gebote des Islam erfassen, und die Anerkennung dieser Gebote bringt natürlich Verantwortung mit sich. Deshalb betont der Islam, dass es keinen Zwang im Glauben geben darf; die Aufgabe der Propheten ist es, die Menschen zum Nachdenken zu motivieren und damit zur Erkenntnis und zur Entscheidung für die Wahrheit zu führen. Gott erlaubt niemandem, auch nicht den Propheten, jemanden zu einer Tat zu zwingen, sei sie auch noch so gut, und so sagt Gott im Qur’an über seinen Propheten Muhammad (k), dass er kein Wächter über die Menschen ist.

Freiheit ist gleichbedeutend mit der Würde des Menschen, und diese Würde ist kein Recht, sondern macht vielmehr sein Wesen aus. Wenn man die Würde des Menschen missachtet, nimmt man ihm seine Menschlichkeit und stellt ihn auf die Stufe der Tiere. Ebenso verhält es sich mit der Freiheit: Wenn wir dem Menschen alle Rechte zugestehen, ihm aber die Freiheit nehmen, ist es, als hätten wir ihm alles genommen. Der Mensch ist Mensch aufgrund von Freiheit und Willen. Wenn wir ihm irgendeine Weltanschauung aufzwingen, haben wir ihn seiner Freiheit beraubt und seine Menschlichkeit verletzt. Der Islam verbietet den Zwang als große Sünde, und er geht sogar so weit, dass er den Glauben eines Menschen, der nicht auf rationaler Erkenntnis, sondern nur auf blinder Nachahmung basiert, nicht annimmt. Der Islam akzeptiert die Ausrede nicht, dass wir schon unsere Väter bei diesem Glauben gefunden haben und deshalb diesem Glauben folgen.

Im Zusammenhang mit dem Begriff der Freiheit stellt sich zunächst die Frage, ob und wie die menschliche Willensfreiheit im Islam begrenzt wird, und zwar zum einen im Hinblick auf die innere Dimension, das Gewissen, und andererseits hinsichtlich der äußerlichen Ebene der Gesellschaft. Bezüglich des Gewissens gibt es keinerlei Einschränkungen. Freiheit bedeutet die Fähigkeit, alle Bedürfnisse befriedigen zu können, ohne dass irgendein äußerer Faktor darauf einwirken kann. Wenn wir also von vielfältigen Bedürfnissen sprechen und davon ausgehen, dass diese nicht auf die materielle und sinnliche Dimension beschränkt sind, impliziert das keineswegs, dass die geistigen und immateriellen Neigungen eingrenzend wirken dürfen, sondern vielmehr, dass diese Bedürfnisse des Menschen genauso zu seinem Wesen und seiner Natur gehören wie alle anderen. Wenn dem Menschen gesagt wird, dass er nicht nur reine Materie ist, sondern ihn über seine materiellen und physischen Aspekte hinaus auch Emotionen, Liebe, Vollkommenheit, Schönheitsempfinden usw. prägen, resultiert das nicht in einer Begrenzung seiner Freiheit, sondern weitet ihm vielmehr den Horizont für die Vielseitigkeit und Weite seiner eigenen Existenz, die nicht eindimensional und begrenzt ist wie das Sein von Tieren, unbelebten Körpern oder auch Engeln.
Aus der Sicht des Islam sind mit Ausnahme des Menschen alle Geschöpfe, angefangen bei den unbelebten Körpern bis hin zu den Engeln, eindimensional. Die Engel kennzeichnet z. B. eine himmlische und übernatürliche Identität, die ohne jegliches Bewusstsein von den irdischen materiellen Bedürfnissen ist. Im Gegensatz dazu unterliegen die Tiere völlig ihren materiellen und instinktiven Anlagen und haben keinerlei Verständnis von geistigen oder höheren Neigungen gleich welcher Art. Einzig der Mensch ist ein Konglomerat beider Aspekte und kann durch die Schaffung einer harmonischen Ausgewogenheit einen einzigartigen Rang erreichen. Weder Tiere noch Engel sind vollkommen und fehlerfrei, sondern nur der Mensch genießt eine herausragende Stellung in der Schöpfung, weil er die beiden Ebenen von Gut und Böse, Hässlichkeit und Schönheit usw. kennt. Eine qur’anische Metapher beschreibt die Erschaffung der Lebewesen durch Gott mit einer Hand, während Er den Menschen mit beiden Händen erschuf. Als Iblis sich weigert, sich auf Gottes Geheiß vor dem Menschen niederzuwerfen, fragt ihn Gott, warum er sich weigert, sich vor etwas niederzuwerfen, dass Er mit Seinen beiden Händen erschaffen hat, und als Iblis sich daraufhin für besser als der Mensch erklärt, verflucht ihn Gott.

Die beiden Hände symbolisieren die materielle irdische und die spirituelle himmlische Dimension, die augenscheinlich nicht zusammen passen. Der Qur’an beschreibt an anderer Stelle die Vollkommenheit und Zweidimensionalität des Menschen, denn einzig und allein der Mensch kann alle Eigenschaften Gottes in sich vereinen, während die anderen Geschöpfe nur einige der Eigenschaften Gottes haben. Deshalb ist der Mensch auch Statthalter Gottes auf Erden , dem alle Namen gelehrt wurden. Die Zweidimensionalität des Menschen gewährt ihm Willensfreiheit. Freiheit und Willen sind aber nur dann von Bedeutung, wenn man die Kraft und Kapazität hat, sie zu benutzen. Weder sind die Engel fähig, sich sinnlichen Trieben hinzugeben, noch haben Tiere die Möglichkeit, über ihre Körperlichkeit hinauszuwachsen; der Mensch hingegen ist dazu in der Lage, und aus diesem Grunde steht er über all diesen Wesen und erlangt einen Rang, der mit göttlichen Erwartungen und der Verantwortung gegenüber Gott verbunden ist, die kein anderes Geschöpf teilt. Diese Zweidimensionalität erhebt den Menschen nicht nur über alle anderen Wesen, sie unterscheidet ihn auch von ihnen. Wenn ihm nur ein Weg offen stünde, hätte er keine Möglichkeit zur Wahl und zur freien Entscheidung. Seine Fähigkeit zur Erkenntnis impliziert folglich Entscheidung und Wahl auf der Grundlage von Bewusstsein.

Hier wird die mit der Entsendung der Propheten und der Offenbarung der Heiligen Schriften verbundene Philosophie offenbar: Die Propheten kamen niemals, um den Menschen seiner Freiheit zu berauben, oder ihm irgendeinen Zwang aufzuerlegen. Mittels der Offenbarung soll vielmehr das menschliche Bewusstsein geweckt werden, dass ihn zur besten Wahl führen soll. Gemäß der islamischen Sichtweise ist der Mensch mit einer reinen Natur erschaffen worden, d. h. er ist von seinem Wesen her weder schlecht noch ein Sünder, sondern er liebt von vornherein das Gute, eine Tendenz, die es zu entwickeln und zu fördern gilt, denn ungeachtet dessen verfügt er über die Freiheit, sich für das Gute oder Schlechte zu entscheiden. Genauso wie ein Pflanzenkeim in der Erde ohne Pflege und Bewässerung nicht zu einer Pflanze oder einem Baum heranwächst, braucht auch das „Korn“ der reinen Natur des Menschen Rechtleitung und Pflege, damit es gedeihen und Früchte tragen kann.

Erziehung bedeutet also, die nach Vollkommenheit strebende Natur des Menschen zu entwickeln, wobei er sich mit zwei Problemen konfrontiert sieht: Er weiß oft nicht, mit welcher der verschiedenen Möglichkeiten, die sich ihm bieten, er seine Bedürfnisse wirklich befriedigen kann. Andererseits fühlt er sich manchmal nicht nur vom Guten, sondern auch vom Schlechten oder seiner materiellen und animalischen Seite angezogen. Der Erfolg des Menschen besteht also darin, dass er das Gute und Schöne erkennt und die Anziehung des Guten in sich verstärkt, damit sie die Anziehung des Schlechten überwiegt.
Es genügt nicht, dem Menschen nur Rechte und Freiheiten einzuräumen, sondern er muss auch Erkenntnis und Bewusstsein erlangen. Ein Kind verfügt im Unterschied zum Erwachsenen noch nicht über einen Grad an Bewusstsein und Wissen, das ihm stets einen vorteilhaften Gebrauch seiner Freiheiten ermöglicht, so dass ihm seine Freiheiten durchaus zu seinem eigenen Nachteil oder Schaden gereichen können.
Bevor wir also über verschiedene Rechte des Menschen sprechen, müssen wir ein Grundrecht thematisieren: das Recht auf Wissen und Bewusstsein. Der Qur’an bezeichnet eine solche Haltung mit dem Begriff „ruÊd“. Wenn der Mensch nicht weiß, wie er seine Rechte einsetzen kann, nützen ihm weitere Rechte nichts.
Vor allem Eltern und Lehrer müssen die Bewusstseinsbildung und Reife des Kindes fördern und ihm eine Erziehung angedeihen lassen, die ihm eine richtige Nutzung seiner Freiheiten ermöglicht. Niemand wird Eltern dafür tadeln, dass sie ihr Kind vor dem Sturz ins Feuer bewahren. Hier stellt sich die Frage, warum Eltern die Freiheiten des Kindes einschränken können ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden? Wie bereits erwähnt, ist Freiheit ein menschliches Grundrecht, das allen von Geburt an zusteht; ein Kind hat jedoch auch ein Recht auf Wissen und Bewusstsein, was zuweilen nur mittels einer Begrenzung seiner Freiheit zu gewährleisten ist.

Bewusstsein und Erkenntnis sind kein Hindernis für die Freiheit des Menschen, sondern zeigen ihm vielmehr die richtige Nutzung seines Rechtes auf. Der wichtigste Unterschied zwischen den Menschenrechten aus der Sicht des Islam und nichtgöttlichen (materialistischen) Denkschulen besteht darin, dass der Islam den Menschen als erziehungsfähig definiert. Seine Erziehung soll ihm nicht nur das Recht auf Freiheit vermitteln, sondern auch das Recht auf Wissen, Bewusstsein und Entwicklung realisieren, weil sie die Grundlage für alle anderen Rechte darstellen.

Wie ich in früheren Ansprachen bereits erwähnt habe, stellen die religiösen Pflichten und Gebote keine Einschränkungen für die Freiheiten des Menschen dar, sondern bringen vielmehr die Wahrheiten der Schöpfung und des Seins zum Ausdruck. Es handelt sich hier um Wahrheiten, die der Mensch erkennt und die ihm Verantwortung abverlangen. Göttliche Verpflichtungen gründen im Bewusstsein, so dass die Begriffe Gebot und Verbot, die immer Zwang implizieren, nicht angebracht sind. Die religiösen Pflichten sind in diesem Sinne Wahrheiten, die dem Menschen den Weg zur Glückseligkeit weisen, ihn einladen, diesen Weg zu beschreiten und ihn keinem Zwang unterwerfen. Folglich ist die göttliche Strafe nichts anderes als die natürliche Folge eines falschen Weges und der Handlungen des Menschen.

Ein bewusster Mensch erkennt seine Freiheit stets im ethischen und tugendhaften Verhalten, und erstrebt mittels Bewahrung seiner menschlichen Identität und deren Entwicklung Rechtleitung und Glückseligkeit; niemals wird er seine Freiheit auf einem Wege nutzen, der ihn letztlich der Vernichtung preisgibt. Der Unterschied zwischen gläubigen und ungläubigen Individuen und Gesellschaften besteht nicht in der Freiheit bzw. Unfreiheit, sondern in der Frage, wozu diese Freiheit angewendet wird.

Aus islamischer Sicht müssen alle Hindernisse der Bewusstseinsbildung beseitigt werden, ohne den Menschen die Freiheit zu nehmen. Sie sollen den Weg zum Erfolg selbst erkennen und so ihre Freiheit richtig nutzen. Entscheidungsfreiheit bedeutet, einen von vielen verschiedenen Wegen einzuschlagen. Bewusstseinsbildung will den Verstand des Menschen ansprechen.

Im Islam hat auch die Verbreitung der Ideen einen bewusstseinsbildenden Charakter, denn der Verstand des Menschen wird angesprochen und nicht sein Gefühl. Deshalb stellt der Heilige Qur’an auch unmissverständlich fest, dass manche Menschen nach ihrer Bewusstseinsbildung den rechten, andere aber den falschen Weg einschlagen.

Anmerkungen:

Vgl. Qur’an, Sure al-Baqara, Vers 256.
Vgl. Ebd., Sure al-Gashiyah, Vers 22.
Ebd., Sure Sad, Verse 71-78.
Ebd., Sure al-Baqara, Vers 30.
Ebd., Vers 31.
Vgl. ebd., Sure al-Baqara, Vers 256, und Sure al-Insan, Vers 3.

Ebd.