Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen

 „…Und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so soll es sein, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten….“ (Sure al-Ma’ida, Vers 32). Der Mensch ist aus der Sicht des Islam mehr als nur ein Geschöpf. Seine Existenz an sich stellt für ihn weder Vorzug noch besondere Ehre dar, denn diese Eigenschaft teilt er mit anderen Geschöpfen. Aber er ist ein besonderes Wesen, dem der Heilige Qur’an in Sure Al-Isra’, Vers 70, eine besondere Würde zuschreibt: „Und wahrlich, Wir haben die Kinder Adams geehrt…“ Würde und Edelmut sind spezielle Eigenschaften des Menschen, die kein anderes Wesen besitzt. Er ist somit ein erhabenes Wesen, das sogar den Engeln Gottes überlegen ist. Die Niederwerfung der Engel vor dem Menschen am Anfang seiner Schöpfung symbolisiert diese Überlegenheit und Erhabenheit: „Und als Wir zu den Engeln sprachen: ‚Werft euch vor Adam nieder’, da warfen sie sich nieder…“ Und in Sure Sad, Verse 73 und 74, lesen wir: „Und wenn Ich ihn gebildet und von Meinem Geist in ihn eingehaucht habe, dann fallt vor ihm nieder.’ Da warfen sich alle Engel nieder.“

 

Die Würde des Menschen ist nicht nur ein Recht wie alle anderen Rechte, beispielsweise das Recht auf Leben, Wohnung usw., sondern sie macht seine essentielle Identität und existentielle Natur aus. Deshalb steht die Würde des Menschen für nichts anderes als seine Menschlichkeit, denn jeder besitzt unabhängig von Gedanken, Glauben, Religion usw. eine bestimmte Würde. In dem zuvor erwähnten Qur’anvers bezeichnet Gott die Kinder Adams als würdige Wesen und behält diese Eigenschaft nicht den Gläubigen, den Muslimen oder Anhängern anderer Religionen vor. Würde ist somit eine allen Menschen gemeinsame Eigenschaft, und man kann niemanden davon ausschließen. Aus diesem Grund bezeichnet der Qur’an den Schutz der Würde und Ehre eines Menschen als das Bewahren der Würde aller Menschen und stellt in Sure al-Ma’ida, Vers 32, fest: „…und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so soll es sein, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten...“

 

Aus qur’anischer Sicht ist die Auszeichnung eines Menschen keine individuelle Angelegenheit, sondern sie impliziert vielmehr die Auszeichnung der menschlichen Würde allgemein und somit aller Menschen. Der Islam kategorisiert die Menschen nicht auf der Grundlage ihrer Überzeugungen, Gedanken, Nationalität, Religion oder ihres Geschlechts. Im Islam gibt es keinen erstklassigen oder zweitklassigen Menschen. Alle Menschen, ob Mann oder Frau, Muslim oder Nichtmuslim, weiß oder schwarz, sind in ihrem Menschsein gleich und genießen die gleichen Rechte. Keine Rasse ist einer anderen überlegen.

In Sure al-Hujurat, Vers 13, steht geschrieben: „O ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander erkennen möget…“ Diesem Vers ist zu entnehmen, dass die Rasse kein Maßstab für die Würde des Menschen ist.

Ein Muslim trägt gegenüber anderen Muslimen bestimmte Verantwortungen, die seiner Verantwortung gegenüber Menschen anderer Religionen und Nationalitäten keineswegs widersprechen. Kommt ein Muslim seinen Pflichten gegenüber anderen Muslimen nicht nach, so begeht er eine Sünde; gleichermaßen handelt er sündhaft, wenn er seinen Pflichten gegenüber Andersgläubigen und selbst Ungläubigen nicht nachkommt. Gott wird ihn dafür tadeln und bestrafen.

Aus islamischer Sicht sind die Menschlichkeit und die auf ihr gründenden ethischen Werte die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Beziehungen in einer Gesellschaft. In den islamischen Überlieferungen findet man viele Belege für diese Ansicht. Bukhari zitiert die Überlieferung von ³Áber ibn Abdullah Ansari: „Eines Tages wurde vor Prophet Mohammad (s.a.s.) die Leiche eines Juden weggetragen. Der Prophet bezeugte dem Leichnam seinen Respekt. Ein Muslim sagte zum Propheten: ‚O Gesandter Allahs, dies ist die Leiche eines Juden!’ Der Prophet antwortete ihm: ‚War er denn kein Mensch?’“ Der Qur’an lehrt uns, dass die Menschen aber trotz ihrer prinzipiellen Gleichheit einen unterschiedlichen Rang bei Gott haben können.

Im Gegensatz zu den menschlichen Lehren der monotheistischen Religionen, die alle Menschen zu gedeihlichen ethischen Beziehungen auffordern, begehen leider einige verlogene Anhänger dieser Religionen Taten, die mit den göttlichen Lehren nicht im geringsten Zusammenhang stehen. Aus meiner Sicht eines islamischen Gelehrten hat das, was einige extremistischen Gruppen im Namen des Islam in verschiedenen Teilen der Welt begehen, weder mit dem Islam noch mit der Allgemeinheit der Muslime etwas zu tun. Niemand hat das Recht, unschuldige und schutzlose Menschen zu töten, und sich gleichzeitig Muslim zu nennen.

Judentum und Christentum sind aus der Sicht des Islam göttliche Religionen, denen eine gemeinsame abrahamitische Tradition eigen ist. Wer im Namen des Judentums, des Christentums oder des Islam unschuldige Menschen tötet, wie am 11. September in New York, in Palästina, am 11. März in Madrid oder anderswo, darf sich nicht Jude, Christ oder Muslim nennen. 

Die natürlichen Rechte des Menschen gründen in seiner Würde und menschlichen Natur, und religiöse, geschlechtliche oder andere Unterschiede ändern nichts an dieser Tatsache. Der Mensch hat ein Recht auf Leben, weil er Mensch ist, und nicht weil er Muslim, Christ oder Jude, schwarz oder weiß, Perser, Araber oder Europäer ist. Sein Menschsein impliziert das Recht auf Freiheit, Entscheidungsfreiheit, Arbeit, Wohnung, usw. Die verschiedenen Bedeutungen, die dem Begriff „Recht“ beigemessen werden können, außer Acht lassend, müssen wir im Zusammenhang mit dem Begriff „Menschenrechte“ bedenken, dass diese von niemandem erfunden oder per Gesetz verordnet werden können, sondern für das Sein und die Identität des Menschen essentiell sind. Freiheit ist beispielsweise eine Realität, die sich in der Seinsform des Menschen manifestiert, d. h. der Mensch fühlt in seinem Innersten ein Bedürfnis nach Freiheit, ohne dass jemand dieses Bedürfnis in ihm weckt. Jeder Mensch hasst Vernichtung und Tod und hat ein Recht auf Leben. Gleichfalls gehören die Rechte auf Sicherheit, Arbeit und Wohnung zu den menschlichen Grundrechten, denn jeder möchte in Ruhe und Wohlstand leben. Die Ablehnung von Zwang und Gewalt und der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben implizieren das Recht auf Meinungsfreiheit, Redefreiheit und Religionsfreiheit des Einzelnen. Der Islam erkennt jedes dieser Bedürfnisse an, akzeptiert sie ausnahmslos und fordert vom Menschen unter keinen Umständen den Verzicht auf eines dieser natürlichen und essentiellen Bedürfnisse. Jedes dem Menschen innewohnende Bedürfnis ist akzeptabel und gerechtfertigt, gleich ob es individueller, gesellschaftlicher, materieller, geistiger oder sinnlicher Natur ist. Aus islamischer Sicht vernachlässigt ein Mensch, der auch nur eines seiner Bedürfnisse nicht erfüllt - selbst wenn es rein materieller oder sinnlicher Natur ist - einen Teil seiner Menschlichkeit und seines Seins, denn wäre dieser Aspekt der menschlichen Natur nicht notwendig, hätte Gott den Menschen anders erschaffen. Aus der Tatsache, dass Gott den Menschen in dieser natürlichen Veranlagung und Bedürftigkeit erschaffen hat, resultiert die Rechtmäßigkeit und Zulässigkeit aller derartigen Bedürfnisse, die jedoch nur im Rahmen einer friedlichen Atmosphäre befriedigt werden können. Alle Individuen einer Gesellschaft haben das gleiche Recht auf Freiheit, und das bedingt, dass der Einzelne nicht nur seine eigene individuelle Freiheit sieht, sondern dieses Recht im gleichen Maße auch seinen Mitmenschen zugesteht, d. h. die Erkenntnis, dass die eigene Freiheit keine Verletzung oder Beeinträchtigung der Freiheit der Anderen verursachen darf.

Gleiches gilt für die innersten Bedürfnisse des Menschen. Wenn aus der Fülle der menschlichen Neigungen auch nur eine übermäßig verfolgt wird, werden andere zweitrangig und letztlich nicht erfüllt, wodurch der Mensch sich nur selbst schadet.

Die Missachtung der eigenen Bedürfnisse und sich selbst damit Unrecht zuzufügen gereicht dem Einzelnen ebenso zu Schaden wie jede Form der Unterdrückung der Gesellschaft, allerdings mit dem Unterschied, dass Unterdrückung als Vergehen angesehen und strafrechtlich sanktioniert wird, während eine Handlung, mit der man sich selbst schadet, eine individuelle Angelegenheit ist.

Die wesentliche Botschaft des Islam und der anderen himmlischen Religionen besteht in der Forderung, die inneren und natürlichen Bedürfnisse zu erfüllen und zwar so, dass keines dieser Bedürfnisse unerfüllt bleibt oder unterdrückt wird. Darin liegt der grundlegende Unterschied zwischen dem islamischen Denken und dem atheistischen Menschenbild, das im Westen verbreitet ist. Das islamische Verständnis von Unterdrückung (ãulm) ist nicht nur auf andere bezogen, sondern beinhaltet auch die Unterdrückung des eigenen Selbst, wie Imam Ali (a.s.) in einem seiner Gebete mit den Worten „Oh mein Gott, ich habe mir selbst geschadet.“[1] zum Ausdruck brachte.

Wer seine sinnlichen Bedürfnisse überbewertet oder sich z. B. Gefräßigkeit oder Machtstreben hingibt, missachtet seine anderen menschlichen Bedürfnisse und tritt seine eigenen Rechte mit Füßen. Andererseits gilt aber auch derjenige, der seine materiellen Bedürfnisse nicht würdigt, alle materiellen weltlichen Genüsse ablehnt und nur seinen geistigen Neigungen folgt, aus islamischer Sicht gleichfalls als Sünder an sich selbst. Folglich gebietet der Islam das Streben nach Mittelmaß, das allein ein harmonisches Zusammenspiel aller Kräfte, Neigungen und Bedürfnisse des Menschen ermöglicht. Wer diese Harmonie in sich realisieren kann, gilt aus islamischer Sicht als vollkommen. Alle Gebote und Verbote des Islam zielen auf dieses harmonische Mittelmaß ab, und zwar äußerlich, indem der Mensch daran gehindert wird, die Rechte anderer zu verletzen und eine radikale soziopolitische Atmosphäre zu schaffen, und zweitens innerlich, indem er sich selbst vor Übertretung, Übertreibung und „moralischem Radikalismus“ bewahrt. Mit Radikalismus ist jedes individuelle und gesellschaftliche Handeln gemeint, das einen Absolutheitsanspruch erhebt und Vielfalt und jeder Art von Pluralismus abträglich ist. Wer seine verschiedenen Dimensionen und Bedürfnisse in sich selbst nicht auf einen Nenner bringen kann, wird auch auf gesellschaftlicher Ebene die Rechte seiner Mitmenschen nur schwerlich respektieren. Jede Form von Radikalismus, gleich ob er auf persönlicher und ethischer oder auf gesellschaftlicher und politischer Ebene praktiziert wird, lehnt der Islam ab.

Die vorausgegangenen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass das dem Menschen inhärente Bedürfnis nach einem harmonischen Gleichgewicht seiner materiellen und spirituellen Bedürfnisse die Voraussetzung für sein individuelles wie auch das gesellschaftliche Wohlergehen ist. Der Islam respektiert diese Natur und weist dem Menschen mit seiner Lehre und Botschaft den Weg, denn wer außer dem Schöpfer, der die Eigenheiten und Wesensmerkmale des Menschen kennt, könnte einen besseren Weg zu einem harmonischen und ausgeglichenen Leben weisen? Dafür hat Gott den Menschen mit Vernunft begabt, Propheten entsandt, Heilige Schriften offenbart und ihm die Freiheit der Zustimmung oder Ablehnung gewährt. Ziel des Islam ist es, den Menschen so zu erziehen, dass er zum Menschen wird, d. h. seiner Würde als Mensch gerecht wird. Ein Muslim ist in erster Linie ein Mensch, und wenn er seine Würde und Verantwortung als Mensch nicht realisieren kann, entfernt er sich dadurch vom Islam.

Gegenwärtig sieht sich der Islam bedauerlicherweise mit zwei radikalen Tendenzen konfrontiert, nämlich einerseits einer Gruppe von Menschen, nach deren Interpretation des Islam ein Großteil der menschlichen Bedürfnisse negiert wird; d. h. ein Muslim sollte ihrer Ansicht nach seine natürlichen Bedürfnisse unterdrücken und einen Teil seiner Menschlichkeit leugnen. Sie vertritt ein Islamverständnis, das die Verletzung der individuellen und gesellschaftlichen Rechte sanktioniert. Ein solcher radikaler „Islam“, ein Islam der Gewalt, der Übertretung, des Blutvergießens, des Terrors, des Zwangs und der Unfreiheit, steht dem wahren Islam diametral gegenüber. Imam Ali vergleicht einen solchen Islam mit der nach außen gekehrten Innenseite eines Pelzmantels.

Neben diesen gestrauchelten „Pseudomuslimen“ gibt es eine Gruppe von Personen, die sich als Vertreter einer Zivilisation verstehen und darum bemüht sind, gerade diese radikale und verfälschte Auslegung des Islam als den wahren Islam darzustellen und zu propagieren. Sie stellen ihr Zerrbild vom Islam als Wahrheit dar und nutzen die Abscheu der Weltöffentlichkeit vor diesem falschen Islam für ihren eigenen Propagandakampf gegen den wahren Islam und alle Muslime.

Ich sage mit Bestimmtheit, dass alle Terroristen und Mörder unter diesen Pseudomuslimen, wie auch jene, die vorgeben, im Namen ihrer Zivilisation den Terrorismus zu bekämpfen und die darum bemüht sind, den Islam mit Gewalt und Terror in Verbindung zu bringen, ein gemeinsames Ziel haben, einen gemeinsamen Weg gehen und sich dabei gegenseitig unterstützen. Ohne diese Pseudomuslime hätte die zweite Gruppe keine Gelegenheit, die Weltöffentlichkeit mit ihrer antiislamischen Propaganda zu betrügen. Deshalb verwundert es keineswegs, wenn zuweilen die Kooperationen dieser beiden Gruppen publik werden. Trifft es denn nicht zu, dass die Taliban, Bin Laden oder Saddam Hussein in einigen Zeitabschnitten mit denjenigen zusammen arbeiteten, die jetzt gegen den Islam propagieren und vorgeben, den Terrorismus und die Gewalt zu bekämpfen und die Menschenrechte zu verteidigen? Die Sonne der Wahrheit wird nicht immer hinter den Wolken verborgen bleiben!

Freiheit als Grundlage von Würde und Menschlichkeit 

Im Zusammenhang von Mittelmaß und Rationalität darf nicht unerwähnt bleiben, dass alle Menschenrechte - gegenüber den anderen und auch gegenüber sich selbst - beachtet werden müssen. Im Unterschied zu materialistischen Denkschulen impliziert das islamische Menschenbild die kompromisslose Realisierung dieser Rechte, das bedeutet: es genügt nicht, in Konventionen, Protokollen und dgl. die Freiheit und Sicherheit des Menschen zu betonen, sondern vielmehr müssen die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Rechte geschaffen und auch die Menschen selbst aufgefordert werden, ihre Rechte einzufordern und zu praktizieren, denn viele Menschen kennen ihre Rechte nicht und folglich setzen sie sich auch nicht dafür ein. Wer sich seines Rechts auf Leben nicht bewusst ist, dem fällt es vielleicht leichter, dieses aufzugeben, als jemand, der sein Recht kennt. Wer sich seines Rechts auf Freiheit und Sicherheit nicht bewusst ist, wird sich eher mit Diktatur und Unrecht abfinden als jemand, der sich dieser Rechte bewusst ist. In diesem Zusammenhang gewinnt der Begriff Pflicht an Bedeutung, denn aus islamischer Sicht hat der Mensch nicht nur das Recht, frei zu leben, sondern sogar die Pflicht, sein Leben frei zu gestalten, und diese Verpflichtung wird ihn dahingehend motivieren, dass er sich für diese Rechte einsetzt. Würde der Islam nur von Rechten sprechen, sich aber nicht für deren Realisierung einsetzen, wäre dies ein sinnloses Unterfangen, gleich einem Menschen, der ein Auto besitzt, es aber nie gebraucht und damit demjenigen gleicht, der überhaupt kein Auto besitzt.

Die größten gesellschaftlichen Probleme und politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Krisen und Tragödien gründen einerseits im mangelnden Engagement der Menschen für ihre Rechte und zum anderen in der Missachtung dieser Rechte durch andere. Demnach gilt aus der Sicht des Islam nicht nur derjenige als Sünder, der die Rechte anderer verletzt, sondern auch derjenige, der sie nicht einfordert und somit den Machthabern den Missbrauch dieser Rechte ermöglicht, denn im ersten Fall werden andere unterdrückt und im zweiten Fall unterdrückt man sich selbst, wobei jedoch die Unterdrückung anderer nicht nur als Vergehen und Sünde angesehen wird, sondern sogar als Verbrechen gilt. Diktatoren, die im Laufe der Geschichte das Recht der Menschen auf Leben und Freiheit missachtet haben, sind nicht nur Sünder, die sich vor Gott verantworten müssen, sondern auch Verbrecher, die für ihre Taten verurteilt und bestraft werden müssen. Wer hingegen seine eigenen Rechte nicht eingefordert und anderen dadurch die Möglichkeit zu Unterdrückung geboten hat, ist zwar ein Sünder, aber kein Verbrecher; der Sünder muss sich nur vor Gott rechtfertigen und erhält eine jenseitige Strafe, während der Verbrecher darüber hinaus noch eine Strafe nach dem weltlichen Gesetz erhalten muss.

Freiheit und Pflicht?

 Hier stellt sich die Frage, wie man Freiheit und Pflicht vereinen kann, denn der Islam betont einerseits die Freiheit des Menschen und die Menschenrechte, andererseits verbindet er aber jede Freiheit auch mit einer Pflicht, was manch einem durchaus als paradox erscheinen mag. Zum einen wird dem Menschen gesagt: „Du hast das Recht, so zu leben, wie du möchtest!“ und zum anderen wird ihm die Pflicht auferlegt: „Es steht dir nicht frei, auf deine Freiheit zu verzichten!“ Liegt darin kein Widerspruch?

Zur Beantwortung der Frage müssen wir die Begriffe „Zwang“ und „Verpflichtung“ erläutern, die meist als Gegensatz von „Freiheit“ und „Eigenwillen“ angeführt werden. Verpflichtung impliziert eine Notwendigkeit, ein „Muss“ ohne jedoch unbedingt mit Zwang einherzugehen. Dass beispielsweise 2+2=4 ist, stellt ein notwendiges Muss dar, das nicht geleugnet werden kann, ohne dass es irgendeinen Zwang impliziert. Eine solche Verpflichtung basiert auf einer logischen Argumentation, der die menschliche Ratio folgen kann. Jemand, der diese verbindliche Aussage nicht akzeptiert, ist kein Verbrecher, obgleich ihn niemand zur Akzeptanz dieses Grundsatzes zwingen kann und er sich nur vor seinem eigenen Verstand rechtfertigen muss. Jeder rationale philosophische oder mathematische Grundsatz schließt eine solche vom menschlichen Verstand zu bejahende Verpflichtung ein, stellt sozusagen eine „geistige Verpflichtung“ dar, die den Menschen niemals seiner Entscheidungsfreiheit beraubt, sondern ihn vielmehr ermächtigt, die seinem Verstand als beste erscheinende Entscheidung zu wählen. Abgesehen von dieser rationalen Verpflichtung sieht er sich einer konkreten äußeren Verpflichtung gegenüber, die mit der Aufhebung seiner Freiheit und Willensentscheidung verbunden ist und mit Zwang einhergeht. Folglich schließen Zwang und Freiheit einander aus. Die geistige Verpflichtung entspricht nicht nur der Freiheit, sie fördert diese sogar noch und ruft im Menschen den Wunsch nach einer richtigen Wahl hervor. Die religiösen Pflichten sind ausnahmslos geistige Verpflichtungen. Wenn der Islam den Menschen dazu verpflichtet, die Rechte der anderen und seine eigene Freiheit zu respektieren, dann ist dies eine geistige Verpflichtung, die keinesfalls aus Zwang und äußerem Druck resultiert, sondern auf der Grundlage der Vernunft realisiert werden soll. Jeder rationale Mensch kann die Richtigkeit der religiösen Gebote des Islam erfassen, und die Anerkennung dieser Gebote bringt natürlich Verantwortung mit sich. Deshalb betont der Islam, dass es keinen Zwang im Glauben geben darf (vgl. Sure al-Baqara, Vers 256). Die Aufgabe der Propheten ist es, die Menschen zum Nachdenken zu motivieren und damit zur Erkenntnis und zur Entscheidung für die Wahrheit zu führen. Gott erlaubt niemandem, auch nicht den Propheten, jemanden zu einer Tat zu zwingen, sei sie auch noch so gut. Gott sagt im Qur’an über seinen Propheten Mohammad, dass er kein Wächter über die Menschen ist (vgl. Sure al-³Ápiya, Vers 22).

Freiheit ist gleichbedeutend mit der Würde des Menschen, und diese Würde ist kein Recht, sondern macht vielmehr sein Wesen aus. Wenn man die Würde des Menschen missachtet, hat man ihm seine Menschlichkeit genommen und ihn auf die Stufe der Tiere gestellt. Ebenso verhält es sich mit der Freiheit: Wenn wir dem Menschen alle Rechte zugestehen, ihm aber die Freiheit nehmen, ist es, als hätten wir ihm alles genommen. Der Mensch ist Mensch aufgrund von Freiheit und Willen. Wenn wir ihm irgendeine Weltanschauung aufzwingen, haben wir ihn seiner Freiheit beraubt und seine Menschlichkeit verletzt. Der Islam verbietet den Zwang als große Sünde, und er geht sogar so weit, dass er den Glauben eines Menschen, der nicht auf rationaler Erkenntnis, sondern nur auf blinder Nachahmung basiert, nicht annimmt. Der Islam akzeptiert die Ausrede nicht, dass wir schon unsere Väter bei diesem Glauben gefunden haben und deshalb diesem Glauben folgen.

 

Das menschliche Recht auf Wissen und Bewusstsein 

 

Im Kontext der Freiheit stellt sich zunächst die Frage, ob und wie die menschliche Willensfreiheit im Islam begrenzt wird und zwar zum einen im Hinblick auf die innere Dimension, das Gewissen, und andererseits hinsichtlich der äußerlichen Ebene der Gesellschaft. Bezüglich des Gewissens gibt es keinerlei Einschränkungen. Freiheit bedeutet die Fähigkeit, alle Bedürfnisse befriedigen zu können, ohne dass irgendein äußerer Faktor darauf einwirken kann. Wenn wir also von vielfältigen Bedürfnissen sprechen und davon ausgehen, dass diese nicht auf die materielle und sinnliche Dimension beschränkt sind, impliziert das keineswegs, dass die geistigen und immateriellen Neigungen eingrenzend wirken dürfen, sondern vielmehr, dass diese Bedürfnisse des Menschen genauso zu seinem Wesen und seiner Natur gehören wie alle anderen. Wenn dem Menschen gesagt wird, dass er nicht nur reine Materie ist, sondern ihn über seine materiellen und physischen Aspekte hinaus auch Emotionen, Liebe, Vollkommenheit, Schönheitsempfinden usw. prägen, resultiert das nicht in einer Begrenzung seiner Freiheit, sondern weitet ihm vielmehr den Horizont für die Vielseitigkeit und Weite seiner eigenen Existenz, die nicht eindimensional und begrenzt ist wie das Sein von Tieren, unbelebten Körpern oder auch Engeln.

Aus der Sicht des Islam sind mit Ausnahme des Menschen alle Geschöpfe, angefangen bei den unbelebten Körpern bis hin zu den Engeln, eindimensional. Die Engel kennzeichnet z. B. eine himmlische und übernatürliche Identität, die ohne jegliches Bewusstsein von den irdischen materiellen Bedürfnissen ist. Im Gegensatz dazu unterliegen die Tiere völlig ihren materiellen und instinktiven Anlagen und haben keinerlei Verständnis von geistigen oder höheren Neigungen gleich welcher Art. Einzig der Mensch ist ein Konglomerat beider Aspekte und kann durch die Schaffung einer harmonischen Ausgewogenheit einen einzigartigen Rang erreichen. Weder Tiere noch Engel sind vollkommen und fehlerfrei, sondern nur der Mensch genießt eine herausragende Stellung in der Schöpfung, weil er die beiden Ebenen von Gut und Böse, Hässlichkeit und Schönheit usw. kennt. Eine qur’anische Metapher beschreibt die Erschaffung der Lebewesen durch Gott mit einer Hand, während Er den Menschen mit beiden Händen erschuf. Als Iblis sich weigert, sich auf Gottes Geheiß vor dem Menschen niederzuwerfen, fragt ihn Gott, warum er sich weigert, sich vor etwas niederzuwerfen, dass Er mit Seinen beiden Händen erschaffen hat, und als Iblis sich für besser als der Mensch erklärt, verflucht ihn Gott.[2]

Die beiden Hände symbolisieren die materielle irdische und die spirituelle himmlische Dimension, die augenscheinlich nicht zusammen passen. Der Qur’an beschreibt an anderer Stelle die Vollkommenheit und Zweidimensionalität des Menschen, denn einzig und allein der Mensch kann alle Eigenschaften Gottes in sich vereinen, während die anderen Geschöpfe nur einige der Eigenschaften Gottes haben. Deshalb ist der Mensch auch Statthalter Gottes auf Erden[3]; ihm wurden alle Namen gelehrt.[4] Die Zweidimensionalität des Menschen gewährt ihm Willensfreiheit. Freiheit und Willen sind aber nur dann von Bedeutung, wenn man die Kraft und Kapazität hat, sie zu benutzen. Weder sind die Engel fähig, sich sinnlichen Trieben hinzugeben, noch haben Tiere die Möglichkeit, über ihre Körperlichkeit hinauszuwachsen; der Mensch hingegen ist dazu in der Lage, und aus diesem Grunde steht er über all diesen Wesen und erlangt einen Rang, der mit göttlichen Erwartungen und der Verantwortung gegenüber Gott verbunden ist, die kein anderes Geschöpf teilt. Diese Zweidimensionalität erhebt den Menschen nicht nur über alle anderen Wesen, sie unterscheidet ihn auch von ihnen. Wenn ihm nur ein Weg offen stünde, hätte er keine Möglichkeit zur Wahl und zur freien Entscheidung. Seine Fähigkeit zur Erkenntnis impliziert folglich Entscheidung und Wahl auf der Grundlage von Bewusstsein.

 

Hier wird die mit der Entsendung der Propheten und der Offenbarung der Heiligen Schriften verbundene Philosophie offenbar: Die Propheten kamen niemals, um den Menschen seiner Freiheit zu berauben, oder ihm irgendeinen Zwang aufzuerlegen. Mittels der Offenbarung soll vielmehr das menschliche Bewusstsein geweckt werden, dass ihn zur besten Wahl führen soll. Gemäß der islamischen Sichtweise ist der Mensch mit einer reinen Natur erschaffen worden, d. h. er ist von seinem Wesen her weder schlecht noch ein Sünder, sondern er liebt von vornherein das Gute, eine Tendenz, die es zu entwickeln und zu fördern gilt, denn ungeachtet dessen verfügt er über die Freiheit, sich für das Gute oder Schlechte zu entscheiden. Genauso wie ein Pflanzenkeim in der Erde ohne Pflege und Bewässerung nicht zu einer Pflanze oder einem Baum heranwächst, braucht auch das „Korn“ der reinen Natur des Menschen Rechtleitung und Pflege, damit es gedeihen und Früchte tragen kann.

Erziehung bedeutet also, die nach Vollkommenheit strebende Natur des Menschen zu entwickeln, wobei er sich mit zwei Problemen konfrontiert sieht: Er weiß oft nicht, mit welcher der verschiedenen Möglichkeiten, die sich ihm bieten, er seine Bedürfnisse wirklich befriedigen kann. Andererseits fühlt er sich manchmal nicht nur vom Guten, sondern auch vom Schlechten oder seiner materiellen und animalischen Seite angezogen. Der Erfolg des Menschen besteht also darin, dass er das Gute und Schöne erkennt und die Anziehung des Guten in sich verstärkt, damit sie die Anziehung des Schlechten überwiegt. Es genügt nicht, dem Menschen nur Rechte und Freiheiten einzuräumen, sondern er muss auch Erkenntnis und Bewusstsein erlangen. Ein Kind verfügt im Unterschied zum Erwachsenen noch nicht über einen Grad an Bewusstsein und Wissen, dass ihm stets einen vorteilhaften Gebrauch seiner Freiheiten ermöglicht, so dass ihm seine Freiheiten durchaus zu seinem eigenen Nachteil oder Schaden gereichen können. Bevor wir also über verschiedene Rechte des Menschen sprechen, müssen wir ein Grundrecht thematisieren: das Recht auf Wissen und Bewusstsein. Der Qur’an bezeichnet eine solche Haltung mit dem Begriff „ruÊd“. Wenn der Mensch nicht weiß, wie er seine Rechte einsetzen kann, nützen ihm weitere Rechte nichts.

Vor allem Eltern und Lehrer müssen die Bewusstseinsbildung und Reife des Kindes fördern und ihm eine Erziehung angedeihen lassen, die ihm eine richtige Nutzung seiner Freiheiten ermöglicht. Niemand wird Eltern dafür tadeln, dass sie ihr Kind vor dem Sturz ins Feuer bewahren. Hier stellt sich die Frage, warum Eltern die Freiheiten des Kindes einschränken können, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden? Wie bereits erwähnt, ist Freiheit ein menschliches Grundrecht, das allen von Geburt an zusteht; ein Kind hat jedoch auch ein Recht auf Wissen und Bewusstsein, was zuweilen nur mittels einer Begrenzung seiner Freiheit zu gewährleisten ist. Bewusstsein und Erkenntnis sind kein Hindernis für die Freiheit des Menschen, sondern zeigen ihm vielmehr die richtige Nutzung seines Rechtes auf.

Der wichtigste Unterschied zwischen den Menschenrechten aus der Sicht des Islam und nichtgöttlichen (materialistischen) Denkschulen besteht darin, dass der Islam den Menschen als erziehungsfähig definiert. Seine Erziehung soll ihm nicht nur das Recht auf Freiheit vermitteln, sondern auch das Recht auf Wissen, Bewusstsein und Entwicklung realisieren, weil dies die Grundlage für alle anderen Rechte darstellt.

Die religiösen Pflichten und Gebote stellen keine Einschränkungen der Freiheiten des Menschen dar, sondern bringen vielmehr die Wahrheiten der Schöpfung und des Seins zum Ausdruck. Es handelt sich hier um Wahrheiten, die der Mensch erkennt und die ihm Verantwortung abverlangen. Göttliche Verpflichtungen gründen im Bewusstsein, so dass die Begriffe Gebot und Verbot, die immer Zwang implizieren, nicht angebracht sind. Die religiösen Pflichten sind in diesem Sinne Wahrheiten, die dem Menschen den Weg zur Glückseligkeit weisen, ihn einladen, diesen Weg zu beschreiten und ihn keinem Zwang unterwerfen. Folglich ist die göttliche Strafe nichts anderes als die natürliche Folge eines falschen Weges und der Handlungen des Menschen.[5]

Ein bewusster Mensch erkennt seine Freiheit stets im ethischen und tugendhaften Verhalten, und erstrebt mittels Bewahrung seiner menschlichen Identität und deren Entwicklung Rechtleitung und Glückseligkeit; niemals wird er seine Freiheit auf einem Wege nutzen, der ihn der Vernichtung preisgibt.

Der Unterschied zwischen gläubigen und ungläubigen Individuen und Gesellschaften besteht nicht in Freiheit bzw. Unfreiheit, sondern in der Frage, wozu diese Freiheit benutzt wird. Aus islamischer Sicht müssen alle Hindernisse der Bewusstseinsbildung beseitigt werden, ohne den Menschen die Freiheit zu nehmen. Sie sollen den Weg zum Erfolg selbst erkennen und so ihre Freiheit richtig nutzen. Heutzutage ist in manchen freien und demokratischen Gesellschaften gelenkte Werbung und Propaganda an die Stelle dieser Bewusstseinsbildung getreten, und obwohl ständig von Freiheit die Rede ist, werden die Menschen mit selektierten Informationen bombardiert, in eine bestimmte Richtung gedrängt und letztlich manipuliert. In solchen Gesellschaften ist Freiheit nur eine leere Parole. Dem Menschen bleibt letztlich nichts anderes übrig, als der von den Massenmedien vorgezeichneten Darstellung zu folgen. Hier verliert ein Begriff wie „freie Wahl“ völlig seine eigentliche Bedeutung. Wahl bedeutet aber, einen von vielen verschiedenen Wegen einzuschlagen. Bewusstseinsbildung will den Verstand des Menschen ansprechen, Propaganda will ihn manipulieren. Propaganda und Werbung sprechen Sensationslust und Gefühle des Menschen an und nehmen ihm die Entscheidungsfreiheit. Es steht ihm frei, gezwungen zu sein. Im Islam hat auch die Verbreitung der Ideen einen bewusstseinsbildenden Charakter, denn der Verstand des Menschen wird angesprochen und nicht sein Gefühl. Deshalb stellt der Qur’an auch unmissverständlich fest, dass manche Menschen nach ihrer Bewusstseinsbildung den rechten, andere aber den falschen Weg einschlagen (vgl. Sure al-InsÁn, Vers 3).

 

Die gesellschaftlichen Grenzen der individuellen Freiheit 

 Auf der innerlichen Ebene wird die Freiheit nicht eingeschränkt, denn erst die Bedürfnisse und Wünsche des Menschen lassen die Freiheit erkennen und stellen somit per se keine Einschränkung dar. Ist dies aber auch auf die äußere oder gesellschaftliche Ebene übertragbar? Selbst die Vertreter der absoluten Freiheit räumen ein, dass die individuelle Freiheit auf der gesellschaftlichen Ebene nicht absolut und uneingeschränkt sein kann. Die wichtigsten Begrenzungen der menschlichen Freiheit definieren das Gesetz und die Freiheit des anderen. Danach stößt die Freiheit an ihre Grenzen, wo die Freiheit des anderen und die Bewahrung des Gesetzes gefährdet sind. Legen aber allein die Vorteile anderer diese rote Linie fest, oder darf man jemandem, der das Gesetz nicht verletzt und auch die Rechte seiner Mitmenschen nicht gefährdet, dennoch eine Missachtung der gesellschaftlichen Werte zugestehen?

Offensichtlich ist die soziale Freiheit nicht nur durch Gesetze oder den Nutzen der anderen begrenzt, sondern es gibt darüber hinaus einen weiteren wichtigen Faktor im Hinblick auf die Identität und Existenz der Gesellschaft. Jede Gesellschaft setzt sich zwar aus Individuen zusammen, gewinnt ihre Identität und ihr Dasein aber auch aus ihrem historischen Bezugsrahmen, wird also von einem „Geist“ getragen, der sie von anderen Gesellschaften unterscheidet. Westliche und östliche Gesellschaften unterscheiden sich nicht nur durch die Individuen, sondern auch durch den Geist, der in diesen Gesellschaften herrscht. Dieser „Geist“ speist sich aus Aktionen und Reaktionen und historischen Entwicklungen und Veränderungen auf kultureller, politischer und wirtschaftlicher Ebene. Kulturelle und religiöse Traditionen, nationale Sitten und Gebräuche, die geographische und klimatische Lage usw. sind Dinge, die die Identität einer Gesellschaft beeinflussen. Diese Faktoren sind nicht leicht zu verändern, weil sie in einem historischen Prozess während vieler Jahre und Jahrhunderte entstanden sind, und auch die Individuen einer Gesellschaft können diese Faktoren nicht einfach missachten oder mittels Konsens verändern. Werturteile, geliebte oder verhasste Dinge in einer Gesellschaft gründen in dieser tradierten gesellschaftlichen Identität.

Der ehrwürdige Qur’an unterscheidet Identitäten und Schicksale von Gesellschaften und sieht sie nicht nur als Ansammlung von Individuen an, sondern spricht jeder Gesellschaft eine Eigenständigkeit zu, die in einigen Fällen sogar den Willen und die Unabhängigkeit des Individuums beeinflussen kann. Ebenso wie der Mensch Aufgaben und Handlungen hat, die Belohnung oder Bestrafung bewirken, verfügt auch die Gesellschaft über einen bestimmten Handlungsradius, und die Handlungen jeder Gesellschaft erscheinen dieser Gesellschaft als schön (vgl. Sure al-AnþÁm, Vers 108). Jede Gesellschaft hat darüber hinaus ihre eigene Geschichte, und jede Gemeinschaft wird für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden (vgl. Sure al-Jthiya, Vers 28).

Eine der wichtigsten „roten Linien“ der Freiheit besteht also darin, die Identität und Existenz der Gesellschaft nicht zu beeinträchtigen, d. h. eine Handlung, die zwar keinen Gesetzesverstoß und keine Rechtsverletzung darstellt, aber den Werten und der Identität einer Gesellschaft widerspricht, zu unterlassen. Gesellschaftliche Koexistenz impliziert die Verantwortung des Individuums für die gesellschaftliche Identität.

Auch viele liberale Philosophen, die den Einfluss der Gesellschaft auf das Individuum bestätigen, wie z. B. John Stuart Mill, verbinden diese Einflussnahme seitens der Gesellschaft mit Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft seitens des Individuums. Da die prägenden Werte einer gesellschaftlichen Identität wie bereits erwähnt differieren und verschiedene „rote Linien“ ergeben können, resultiert dies beispielsweise in einer orientalischen Gesellschaft, in der möglicherweise ein völlig anderer Geist herrscht als in einer okzidentalen Gesellschaft.

Der Islam vertritt die rationale These, dass jede Gesellschaft ihre eigenen Werte respektieren darf (vgl. Sure al-AnþÁm, Vers 108). Jede Gesellschaft hat das Recht, ihren Werten treu zu bleiben und Gesetze zum Schutz ihrer Werte und Identität zu erlassen. Jeder, der einer Gesellschaft angehört, ist zur Achtung und Wahrung ihrer Gesetze verpflichtet, und selbst wenn jemand diese Gesetze nicht akzeptiert, hat er nicht das Recht, ihnen gegenüber respektlos zu handeln. Selbstverständlich kann jeder Mensch auf der Grundlage der Meinungsfreiheit bestehende Werte und Traditionen kritisieren. Wenn er ihre Werte nicht mittragen kann, kann er seine Gesellschaft letztlich verlassen, aber er hat nicht das Recht, deren identitätsbildenden Werte zu verletzen, solange er ihren Schutz genießt.

Die islamischen Lehren verpflichten jeden Muslim, für die Gesellschaft, in der er lebt, Verantwortung zu übernehmen. So wie diese Gesellschaft seine Rechte schützt, ist auch der Muslim verpflichtet, die Regeln der Gesellschaft, in der er lebt, zu respektieren, auch wenn diese Gesellschaft nicht islamisch ist. Keinem Muslim steht es frei, Rechte, Gesetze und Werte einer Gesellschaft zu missachten, nur weil diese Gesellschaft nicht islamisch ist. Er hat jedoch dank seiner individuellen Rechte die Möglichkeit, alle Dinge, die seiner Identität widersprechen, zu vermeiden.

Wenn heute Muslime in einigen westlichen Gesellschaften gegen das Gesetz zum Verbot der islamischen Kleidung (½iºÁb) protestieren, dann tun sie das nicht, weil sie die Gesetze und die Werte des Westens verletzen wollen. Wir gestehen diesen Gesellschaften das Recht zu, ihre gesellschaftlichen und historischen Identitäten zu bewahren und zu verteidigen. Wenn Säkularismus und Neutralität des Staates gegenüber Religionen zu den Hauptwerten des Westens gehören, sind wir als Muslime verpflichtet, diese Werte zu respektieren und sie nicht zu bekämpfen.

Wir respektieren die prinzipielle Trennung von Religion und Staat in dieser Gesellschaft, und zwar nicht aus taktischen oder politischen Überlegungen heraus, sondern aufgrund der den islamischen Lehren zugrunde liegenden Rationalität, die den Gläubigen verpflichtet, die gesellschaftlichen Verträge einzuhalten. Der Islam lehrt uns, das Recht jeder Gesellschaft auf Bewahrung ihrer Werte zu respektieren, und wer dagegen verstößt, hat nicht nur das Gesetz übertreten, was sanktioniert werden muss, sondern auch ein göttliches Gebot negiert. Wenn die Kleidung muslimischer Frauen tatsächlich die Gesetze und Werte mancher Gesellschaften verletzen sollte, dann müssen sich die Muslime meines Erachtens nach diesen Regeln richten. Ich bin jedoch der Meinung, dass der Säkularismus nicht zwangsläufig mit einer negativen Einstellung zu den Religionen verbunden ist, sondern eine Neutralität gegenüber religiösen Glaubensinhalten impliziert.

 

Die Gesetze eines zivilisierten Landes wie Deutschland, das als Heimat der Dichter und Denker gilt, haben es sich sogar zum Ziel gesetzt, die Anhänger aller Religionen bei der Ausübung ihrer Religion gleichermaßen zu unterstützen. Die Säkularität lässt dem Menschen sogar freie Hand bei der Wahl seiner Religion oder seiner Kleidung. Säkularität bedeutet keinesfalls, die Religionen zu leugnen, sondern verlangt von den Mitgliedern der Gesellschaft sogar, anderen keine bestimmte Meinung aufzuzwingen. Wenn also niemand den anderen Gesellschaftsmitgliedern seine religiösen Anschauungen aufzwingen darf, so darf im umgekehrten Fall auch den Gläubigen keine unreligiöse Lebensweise aufoktroyiert werden. Der säkulare Staat ist ebenso, wie er andere Rechte gewährleistet, verpflichtet, die Gläubigen bei der Durchführung ihrer religiösen Gebote zu unterstützen. Muslime und andere religiöse Minderheiten von der Ausübung ihrer religiösen Pflichten abhalten zu wollen stellt einen Eingriff in die Privatsphäre und im Endeffekt den Tod der Demokratie dar.

Gleiches gilt auf zwischenstaatlicher Ebene: Keine Gesellschaft darf einer anderen die eigenen Werte und die eigene historische Identität aufzwingen. Ebenso wie westliche Gesellschaften das Recht auf Verteidigung ihrer Identität und Werte haben, muss dieses Recht auch islamischen und östlichen Gesellschaften zugestanden werden.

Jesus  (a.s.) ertrug wie Moses (a.s.) und Mohammad (s.a.s.) große Pein, um die Menschen rechtzuleiten. Diese Qualen darf man aber niemals den Angehörigen einer Offenbarungsreligion, in diesem Falle dem Judentum, zuschreiben und alle Juden pauschal verurteilen. Unser Prophet Mohammad wurde von einigen seiner Familienangehörigen gequält und bekämpft, was aber nicht die Verurteilung seiner gesamten Verwandtschaft rechtfertigt. Daher wurde sein Nachfolger aus seinem engsten Familienkreis gewählt.

Die Übertretungen einiger Juden, Christen oder Muslime dürfen wir also niemals dem Judentum, dem Christentum oder dem Islam zuschreiben. Als Muslime empfinden wir großen Respekt vor unseren jüdischen und christlichen Geschwistern, die wie wir einer göttlichen Religion folgen.

 

Individuum und Gesellschaft

 

Die Beziehung des Menschen zu seiner Gesellschaft wird von drei wesentlichen Faktoren definiert:

§   Freiheiten von Individuum und Gesellschaft bei der Wahl von Handlungen und Verhaltensweisen.

§   Trennung von privatem und öffentlichem Leben.

§   Differenzierung zwischen dem Wahren und dem Legitimen.

Mit dem ersten Grundprinzip, der Betonung der individuellen und gesellschaftlichen Freiheiten, wird verdeutlicht, dass alles gute und schlechte Verhalten erst dann beurteilt werden kann, wenn es aus freiem Willen geschieht, d. h. aus den entsprechenden Freiheiten resultiert die Verantwortlichkeit für die Handlungen von Individuum und Gesellschaft. Wer zu einer guten bzw. schlechten Tat gezwungen wird, verdient keine Belohnung bzw. Bestrafung. Der Islam vertritt das rationale Prinzip, dass freier Wille und Entscheidungsfreiheit der Verantwortung zugrunde liegen; folglich entbehrt jedes auf Zwang und Unterdrückung basierende despotische Verhalten aller moralischen und ethischen Werte. Eine Handlung ist nur dann ethisch, wenn sie bewusst und aus freiem Willen verrichtet wird. Der Wert sowohl einer ethischen wie auch einer religiösen Tat beruht folglich darauf, dass der moralische und religiöse Mensch diese mit vollem Bewusstsein und aus freiem Willen ausführt. Jedes Individuum hat das Recht, sein privates Leben selbst zu bestimmen, und niemand darf sich in diesen Bereich einmischen. Die Verletzung der Privatsphäre kommt einer Aufhebung des individuellen Rechts auf Freiheit gleich. Entsprechend muss auch auf gesellschaftlicher Ebene alles Handeln auf dem Einverständnis der Mehrheit der Bevölkerung basieren, und niemandem steht es zu, der Gesellschaft seine persönlichen Überzeugungen aufzuzwingen, selbst wenn es sich hierbei um die tugendhaftesten und besten ethischen und religiösen Normen handelt, denn jegliche Aufoktroyierung impliziert den Verlust des ethischen und religiösen Wertes. Ebenso wie der Einzelne seinen persönlichen Bereich bestimmen kann, hat auch die Gesellschaft das Recht, die Art ihres Zusammenlebens zu wählen. Hier tritt die Trennung von privatem und öffentlichem Bereich in Kraft. Den islamischen Grundsätzen zufolge darf jedes Individuum nur über sein eigenes persönliches und privates Leben entscheiden, während die Entscheidung über die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens bei der Mehrheit liegt. Keine Minderheit darf der Mehrheit etwas aufzwingen; die Minderheiten gleichen den Individuen, d. h. sie dürfen nur für sich selbst und ihre Angelegenheiten entscheiden. Den Willen der Mehrheit zu missachten oder zu verletzen ist unzulässig und ungesetzlich, auch wenn diese Minderheit von der Richtigkeit und Korrektheit ihrer Meinung überzeugt ist. Der Islam lehrt uns, dass niemand das Recht hat, unter Berufung auf die Wahrheit die Willensfreiheit eines anderen einzuschränken.

Der Islam lehrt uns ungeachtet seines Wahrheitsanspruches und seiner Rationalität weiter, dass wir selbst eine Gesellschaft mit säkularen und areligösen Ansprüchen respektieren müssen und einer solchen Gesellschaft Religion und religiöse Gebote nicht aufgezwungen werden dürfen.

Hier haben wir es nun mit dem dritten der zuvor genannten Prinzipien zu tun, nämlich der Unterscheidung zwischen dem absoluten Wahrheitsanspruch und der Gesetzgebung. Aus islamischer Sicht muss respektiert werden, wenn ein Individuum oder die Mehrheit einer Gesellschaft nicht nach religiösen Grundsätzen leben will, denn die Wahrheit ist beständig und nicht nach individuellen oder gesellschaftlichen Ansichten veränderbar. Obgleich oftmals eine Diskrepanz zwischen der Wahrheit und den Wünschen der Mehrheit besteht, wäre ein erzwungenes Durchsetzen der Wahrheit unrechtmäßig. Hier gilt es, die Differenzierung des Islam zwischen dem Wahren und dem Legitimen zu beachten. Der Gültigkeitsanspruch des Wahren resultiert aus der erwiesenen Richtigkeit, der das Unwahre, das Falsche (bÁÔil) gegenübersteht. Etwas Wahres stimmt gemäß Logik und Realität mit der Wahrheit überein, so wie z. B. unsere Behauptung, dass die Erde um die Sonne kreist, mit der Wahrheit übereinstimmt. Die Meinung von Individuum oder Gesellschaft spielt bei dieser Wahrheit keine Rolle. Galilei war z. B. gezwungen, seinen Thesen abzuschwören, aber die Wahrheit dieser Thesen blieb bestehen. Trotzdem kann keine Religion, auch wenn sie den höchsten Grad an Wahrheit erreicht hat, mit Zwang durchgesetzt werden. Religiöse Gebote können nur dann als Gesetze formuliert werden, wenn die Mehrheit der Gesellschaft sich demokratisch dafür entschieden hat; ohne diesen demokratischen Konsens können selbst die Gebote der Scharia nicht als Gesetz angesehen und realisiert werden.

Dies verdeutlicht, dass die Religion der Demokratie nicht konträr gegenübersteht, sondern dass sie vielmehr die konkrete Umsetzung der demokratischen Werte intendiert. Der Islam nutzt bei der Gestaltung der Gesellschaft nur demokratische Methoden und lehnt undemokratische Vorgehensweisen strikt ab; diktatorische Zwangsmaßnahmen sind „unislamisch“. Auch auf anderer Ebene stimmt der Islam mit der Demokratie überein: Gewohnheitsrecht und menschliche Vernunft sind zwei Hauptquellen bei der Rechtsfindung in gesellschaftlichen Belangen. Einerseits stützt sich der Islam auf den göttlichen Offenbarungen entnommene Grundlagen und Bestimmungen und sieht die Einhaltung ethischer und religiöser Bestimmungen im gesellschaftlichen Handeln als notwendig an, andererseits überlässt er die Festlegung vieler gesellschaftlicher Bestimmungen dem Gewohnheitsrecht und der menschlichen Vernunft; in diesem Sinne werden die Gesetze, die eine Gesellschaft aufgrund bestimmter Notwendigkeiten beschließt, bindend, sofern keine Einmischungen in die Privatsphäre der Menschen stattfinden und die persönlichen und religiösen Rechte der Individuen nicht verletzt werden. Gewohnheitsrechte dürfen nicht dazu führen, dass das Individuum seinen religiösen Verpflichtungen nicht nachkommen kann. Der Wert, den der Islam dem Gewohnheitsrecht und der menschlichen Vernunft beimisst, führt dazu, dass der Islam ewig und dauerhaft ist und nicht an die engen Grenzen von Zeit und Ort gebunden ist. Zusammenfassend können wir also festhalten, dass der Islam Demokratie und das Votum der Mehrheit respektiert und fordert.

Muslime beabsichtigen nicht, in einer Gesellschaft mit einer nichtmuslimischen Mehrheit einen „Staat im Staat“ zu bilden und die Bestimmungen dieses Staates zu missachten. Nach Ansicht vieler Theoretiker der Demokratie impliziert die Herrschaft der Mehrheit keine „Diktatur der Mehrheit“, in der die Rechte von Minderheiten missachtet und mit Füßen getreten werden dürfen. Einer der wichtigsten demokratischen Grundsätze besteht in der Wahrung der Rechte der Minderheiten und deren Praktizierung. Wer Minderheiten als Gefahr ansieht, irrt und entfernt sich weit von demokratischen Prinzipien. Die Präsenz von Minderheiten stärkt und festigt die demokratischen Grundlagen einer Gesellschaft. Historische Erfahrungen verschiedener Gesellschaften, auch der deutschen, zeigen, dass die Unterdrückung von Minderheiten und die Missachtung ihrer Rechte nur Diktatur und Faschismus mit sich bringt. Solche Diktaturen missachten nach einiger Zeit die Rechte aller Menschen, die der Minderheiten und die der Mehrheit. Die Bevölkerung und die Politiker in Deutschland werden sicherlich nicht zulassen, dass sich diese bitteren historischen Erfahrungen aufgrund falscher Propaganda wiederholen. 

 

Gedankenfreiheit aus islamischer Sicht

 Nachdem wir uns bisher mit den politischen und gesellschaftlichen Freiheiten aus der Sicht des Islam beschäftigt haben, bietet sich nun die Diskussion einer der wichtigsten Freiheiten, nämlich der Gedankenfreiheit, an. Was bedeutet Denken? In einem einfachen Sinne meint es die rationale Betrachtung eines Gegenstandes, um diesen kennen zu lernen und Erkenntnis über ihn zu erlangen. Gemäß dieser Definition ist Denken ein Vorgang im Innern, d. h. im Geist und Gewissen des Einzelnen, und in diesem Kontext kommt der Diskussion über die Gedankenfreiheit keine besondere Bedeutung zu. Zweifellos kann jeder Mensch über jede Angelegenheit denken wie er will; niemand kann sein Denken beschränken. Der Islam verbietet deshalb, die Überzeugungen und Gedanken anderer auszuforschen und auszukundschaften und bezeichnet ein solches Verhalten als „½arÁm“, d. h. als religiös verboten. Er verbietet jede Nachforschung und Bespitzelung in privaten Angelegenheiten, zu denen vor allem das Denken gehört (vgl. Sure al-¼uºurÁt, Vers 12).

Das Denken weist jedoch auch einen über die individuelle Ebene hinausgehenden gesellschaftlichen Charakter auf, denn das menschliche Bewusstsein reflektiert Informationen und Einflüsse von außen. Das soziale Verhalten des Menschen wird wiederum von seinem Denken bestimmt. Wenn wir also von der Gedankenfreiheit sprechen, meinen wir die Freiheit, Gedanken öffentlich zu äußern, was eines der wichtigsten Grundrechte darstellt. Der ehrwürdige Qur’an verweist in vielen Versen auf die Notwendigkeit der Gedankenfreiheit und spricht in diesem Kontext von zwei Gesellschaftsarten, der geschlossenen und unentwickelten bzw. der offenen und entwickelten Gesellschaft. Die geschlossene Gesellschaft kennzeichnen aus qur’anischer Sicht zum einen Stagnation im Denken und fehlende Rationalität und zum anderen tribale Strukturen und traditionsgebundene Nachahmung.

Stagnation des Denkens bedeutet dem Qur’an zufolge Zensur, Beschränkung des Denkens und Behinderung von Gedankenaustausch. Das zweite wichtige Charakteristikum einer geschlossenen Gesellschaft, die tribale Struktur, lässt die individuelle Identität völlig in der Identität der Gruppe oder des Stammes aufgehen, die sich ausschließlich über die Stammesführer und die Notabeln definiert. In solchen Gesellschaften wird das Denken von früheren Traditionen tradiert, und das Individuum muss sich dieses Denken aneignen und danach handeln, d. h. Denken in seinem eigentlichen Sinne existiert überhaupt nicht. Dem Qur’an zufolge werden in solchen Gesellschaften Nachdenken und logische Überlegungen durch Nachahmung ersetzt. Der fehlende Gedankenaustausch und die blinde Nachahmung kennzeichnen folglich auch jene, die sich der Einladung zum Glauben der Gesandten widersetzen, indem sie sich auf das Wissen ihrer Väter berufen (vgl. z. B. Sure al-Baqara, Vers 170, oder Sure al-MÁ’ida, Vers 104).

Das Ergebnis dieser blinden Nachahmung ist die Bekämpfung aller Gedanken, die eine veränderte, neue Situation implizieren. Der Heilige Qur’an berichtet uns von dem Kampf des Volkes gegen die neuen rechtleitenden Ideen des Propheten Noah (a.s.), indem es alles daran setzte, seine Gedanken zu bekämpfen. Dieses Volk wollte die neuen Ideen von sich fernhalten, so dass schließlich der Prophet Gott klagte, dass sie sich bei seinen Ermahnungen die Ohren zuhalten und sogar ihre Gewänder über sich ziehen, damit sie ihn nicht sehen und hören können. (Vgl. Sure NÚ½, Vers 6). Auch zu Zeiten des Propheten Mohammad wandten die Gegner verschiedene Methoden an, um die neuen Ideen zu verhindern oder zumindest einzuschränken. Sie wollten durch Störungen, Tumulte und Skandale erreichen, dass die Worte der Offenbarung weder sie noch andere erreichen (vgl. Sure FuÈÈilat, Vers 26).

Neben der geschlossenen Gesellschaft gibt es ein offenes, entwickeltes Gesellschaftssystem, dessen wichtigsten Merkmale Rationalität und freies Denken sind. Der Heilige Qur’an nennt als wichtigste Aufgabe der Propheten das Durchbrechen enger Grenzen und Schranken, damit sich die von einer geschlossenen zu einer offenen rationalen Gesellschaft entwickeln kann. Die Propheten riefen im Laufe der Geschichte die Menschen zu nichts anderem als dem Gebrauch ihres Verstandes auf. Auch wenn die Botschaften der Propheten augenscheinlich den Glauben an Gott und an das Verborgene hervorheben, laden sie dennoch alle zunächst zum Nachdenken ein. Glaube basiert zuerst auf Freiheit, die zum Glauben motiviert, und ferner auf Nachdenken und Ergründen. Das Fundament von Freiheit und freiem Willen sollte Erkenntnis sein, und diese Erkenntnis sollte in einer pluralistischen Atmosphäre erlangt werden, die Willen und Rationalität stärkt. Eine Gesellschaft mit Machtmonopolen und Absolutheitsansprüchen fördert nur blinde Nachahmung.

Zwischen Rationalität und Gedankenfreiheit besteht eine wichtige Verbindung. Der wichtigste identitätsbildende Faktor der Ratio ist die Fähigkeit, zu unterschiedlichen Themen eine kritische Haltung einnehmen zu können, was wiederum die Notwendigkeit verschiedener Optionen voraussetzt, aus denen man seine Wahl trifft. Pluralismus ist demnach die Grundvoraussetzung für rationales Denken und Rationalität. Wenn wir von religiösem Glauben sprechen meinen wir damit eine rationale Entscheidung, die in einer Atmosphäre der Gedankenfreiheit getroffen wird. Das inhärente Wesen des Glaubens steht der bloßen Nachahmung diametral gegenüber, und entsprechend beschreibt der Qur’an die Nachahmung als wichtigste Eigenschaft derjenigen, die sich den Propheten widersetzen. Aus diesem Grunde sind islamische Gelehrte der Meinung, dass jeder auf bloßer Nachahmung basierende Glaube wertlos ist.

Der Islam versucht, die Überlegenheit des monotheistischen Denkens in einer pluralistischen Kontroverse mit anderen Religionen und Weltanschauungen zu beweisen. Aus islamischer Sicht kann man nur durch eine kritische Gegenüberstellung verschiedener Ideen die beste herauskristallisieren. Erfolg und Glück der Gesellschaft können nur gewährleistet werden, wenn mittels Erkenntnis und Bewusstsein die beste Option ausgewählt wird. In diesem Sinne betont der Qur’an in Sure az-Zumar, Vers 18, die Notwendigkeit, sich verschiedene Ideen anzuhören und auf der Grundlage des Verstandes die beste von ihnen auszuwählen. Der Islam unterscheidet nicht zwischen einem gläubigen und einem rationalen Menschen, denn der rechtgeleitete Diener Gottes ist jener, der die Bedeutung des Nachdenkens anerkennt, sich alle Ideen anhört und dann die beste von ihnen auswählt und zwar in einer Atmosphäre, die ihm die Möglichkeit und Freiheit der Entscheidung und Wahl bietet.

In der heutigen Welt werden zwei Bilder vom Islam präsentiert, die sehr weit von der Wahrheit entfernt sind. Zum einen sehen wir bei Muslimen häufig ein Verhalten, das im Grunde mit den Lehren des Islam und des Qur’an nichts zu tun hat, und das oftmals auf tradierten Vorstellungen und Bräuchen beruht. Zum anderen wird eine vernünftige Verbreitung von Gedanken verhindert, und es gibt keine Gedankenfreiheit. Dies führt zu dem besagten falschen Bild vom Islam. Hierzulande wird gerade dieses Bild verwendet und als die „Wahrheit“ des Islam kolportiert. Der Islam wird als despotische Religion beschrieben, die jede Freiheit bekämpft und unterdrückt. Unserer Meinung nach ist der Islam eine Religion, die Freiheit propagiert und den Menschen befreien möchte, und in diesem Sinne kann ein Mensch, der sich nicht bewusst und frei für den Glauben entscheidet, nicht als wirklicher Muslim bezeichnet werden.

 

Grenzen der Meinungs- und Gedankenfreiheit 

 

Im weiteren Verlauf dieser Debatte muss die wichtige Frage beantwortet werden, inwieweit diese Freiheit aus islamischer Sicht begrenzt wird. Zunächst einmal gilt es festzustellen, dass eine absolute, gänzlich unbeschränkte Freiheit prinzipiell nicht vorstellbar ist, auch nicht in den liberalsten Theorien oder individualistischsten Denkschulen. Dieser Aspekt wurde bereits ausführlich besprochen und gilt auch in Bezug auf die Rede- und Gedankenfreiheit. Zweifellos kann man Meinungen und Theorien frei äußern, solange dadurch niemand zu Schaden kommt und Auffassungen anderer nicht verhindert werden, d. h. wie bei der Handlungsfreiheit endet auch die Freiheit der Rede da, wo die Freiheit der anderen gefährdet ist.

Aus islamischer Sicht hat auch die Redefreiheit Ordnungen und Bedingungen, die allgemein in folgende Kategorien unterteilt werden:

 

§   Ordnung der Kenntnislehre.

§   Ordnung der Methodenlehre.

§   Ordnung der Psyche.

§   Ordnung des Rechts.

§   Ordnung der Ethik.

Damit die genannten Ordnungen richtig erklärt werden können, müssen wir aus der Sicht des Islam noch einige andere Punkte beachten. Ein solcher Faktor ist die Zielrichtung, d. h. dass man sich in seinem Leben ein Ziel setzt, auf das man zielbewusst und zielstrebig hinarbeitet, denn jedes Thema, Phänomen usw., gleich ob es das individuelle oder gesellschaftliche Leben betrifft, impliziert eine Zielsetzung, die diskutiert und hinterfragt werden muss. Dieses Prinzip muss auch hinsichtlich der verschiedenen Arten von Freiheit angewendet werden, und in diesem Kontext muss gefragt werden: „Freiheit wozu?“ und „mit welchem Ziel?“ Es gilt also zu klären, warum der Mensch zwingend auf freie Meinungsäußerung angewiesen ist. Der Islam beantwortet diese Frage eindeutig und klar, denn aus islamischer Sicht hängt die Entwicklung und Vervollkommnung des Menschen von seiner Freiheit ab. Menschliche Begabungen und Fähigkeiten können nur mittels Freiheit und der aus ihr resultierenden Inspiration, aus Theorien, Weisheiten, Wissen etc. neue Gedankengänge konstruiert und entwickelt werden. In einer geschlossenen und diktatorischen Gesellschaft können Menschen die angestrebte Vervollkommnung der Vernunft nicht erreichen.

Wird die Rede- und Gedankenfreiheit und darauf gründend die Entwicklung des Menschen zur vollkommenen Denk- und Erkenntnisfähigkeit als Ziel der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit definiert, dürfen diese Freiheiten niemals so charakterisiert und praktiziert werden, dass dieses Ziel nicht erreicht oder noch schlimmer, der Mensch zu Dekadenz und Irrtum geführt wird. Aus diesem Grund ist die Definition von Bedingungen, Ordnungen und Kriterien für die Redefreiheit vernünftig und klug, und der Islam bestimmt diese Kriterien, Bedingungen und Ordnung mittels der Vernunft.

 

Ordnung der Erkenntnis und der Redefreiheit

 

Da Denken und Sprechen mit Verstehen und Erkenntnis verbunden sind, bilden die Kriterien der Erkenntnis die erste Ordnung der Redefreiheit. Das bedeutet, dass die Gedanken so zum Ausdruck gebracht werden sollen, dass dem Angesprochenen ein richtiges Verstehen ermöglicht wird. Niemandem steht es zu, seine Meinungen und Gedanken absichtlich so zu äußern, dass die anderen zu einer falschen Deutung und einem falschen Verständnis gelangen. Wenn ein Sprecher in seinen Ausführungen zum Beispiel Begriffe benutzt, die im alltäglichen Sprachgebrauch andere und verschiedene Bedeutungen haben, kann der Angesprochene durch diese Art der mehrdeutigen Rede absichtlich zu einem falschen Verständnis veranlasst werden. Gleiches gilt, wenn ein Redner Fachausdrücke verwendet, die von denjenigen nicht gekannt werden, die nicht über dieses Fachwissen und die entsprechende Terminologie verfügen, und deren Allgemeinwissen nicht genügt, um zu einem hinreichenden Verständnis und Urteil über das Thema zu gelangen; in diesem Fall hat der Redner den von ihm Angesprochenen verraten und die Würde und Ehre der Redefreiheit missachtet. Deswegen wurden in der islamischen Lehre zwei wichtige Kriterien für die Redefreiheit festgelegt:

1. Die Notwendigkeit des Gebrauchs Benutzung einer gemeinsamen Sprache

Obgleich der Redner seine Meinung und Gedanken frei erläutern kann, ist er verpflichtet, eine Sprache zu verwenden, die für den Angesprochenen verständlich ist, d. h. er muss Begriffe verwenden, die aus der Sicht des Angesprochenen die gleiche Bedeutung und das gleiche Verständnis beinhalten wie aus der Sicht des Redners. Selbstverständlich hat jede Wissenschaft ihre eigene Fachsprache, und dementsprechend gibt es Termini technici, die in ihrem Bereich ihre spezifische Bedeutung haben. Obwohl sie vom äußeren Wortlaut her mit Fachbegriffen aus anderen Wissenschaftszweigen Gemeinsamkeiten aufzuweisen scheinen, sind ihre Bedeutung und ihr Gehalt völlig unterschiedlich. Werden diese Fachbegriffe also ohne jegliche Erklärung und Deutung von einem Wissenschaftsbereich in einen anderen übertragen, wird die erforderliche Ordnung der wissenschaftlichen Sprache und ihrer Anwendungskriterien zerstört.

2. Notwendige Differenzierung zwischen Fachwissen und Allgemeinwissen

Zur Erklärung der notwendigen Bedingung des ersten Kriteriums muss noch erwähnt werden, dass es das Ziel der Denk- und Redefreiheit ist, eine pluralistische Atmosphäre zu schaffen, so dass den Mitgliedern der Gesellschaft die Möglichkeit gegeben wird, die besten Entscheidungen zu treffen. Niemand hat das Recht, den Willen und die Entscheidung der Menschen zu manipulieren und ihre Entscheidungen in eine für ihn nützliche Richtung zu lenken.

Wenn zum Beispiel ein Arzt eine ungewöhnliche medizinische Theorie, die bisher auf breiter wissenschaftlicher Ebene noch nicht erörtert wurde, anstatt in einer akademischen Umgebung und inmitten von Kollegen zu erörtern, diese unter Laien, die einfache Patienten und Nutznießer der Medizin sind, zur Diskussion stellt, und zwar unter Anwendung seines Fachwissens und seiner Fachsprache und versucht, seine Ansichten durchzusetzen, so hat er den Menschen in der Tat Unrecht zugefügt. Hier liegt bereits ein Missbrauch der Redefreiheit vor, und so etwas darf die Gesellschaft nicht zulassen. Das Vorgehen dieses Arztes ist vergleichbar mit jemandem, der auf politischer Ebene unter Anwendung von Mitteln der Unterdrückung und Missachtung der demokratischen Methoden und Wege versucht, an die Macht zu kommen. Auch der emotionale Missbrauch von Menschen, z. B. ihrer Zuneigung und Liebe für das Urteilen in fachlichen Debatten und Themen ist eine Vorgehensweise, die völlig gegen die Vernunft gerichtet und als undemokratisch anzusehen ist.

 

Der Islam beschränkt die Rede- und Denkfreiheit nicht, auch nicht hinsichtlich der Analyse und Kritik von religiösen und theologischen Gedanken. Eine Voraussetzung jedoch, die von Analytikern erfüllt werden muss, liegt in der Beachtung des Aspekts, dass die Beweisführung für die systematische Theologie in jeder Religion ein Fachthema ist, das nur in seinem speziellen Kontext analysiert werden kann, d. h. in Anwesenheit von Menschen, die die für die Debatte und letztlich für das Urteilen und die Entscheidungen notwendigen wissenschaftlichen Voraussetzungen mitbringen.

Kriterien und Ordnungen der Methodenlehre der Redefreiheit

 

Eine andere Art von Ordnung der Rede- und Gedankenfreiheit ist die Ordnung der Methodenlehre. Das impliziert, dass sich Redner, Wissenschaftler und Intellektuelle gemäß der wissenschaftlichen Methoden und Vorgehensweisen äußern, was in der Erkenntnislehre zur Ordnung der Methodenlehre gehört. In diesem Sinne können medizinische Theorien nicht mittels einer mathematischen oder metaphysischen Aussagemethodik dargelegt werden. Der Hinweis auf die Anwendung der richtigen Methodenlehre ist ein Hinweis auf die Richtigkeit der Behauptungen und Schlussfolgerungen an sich. Die Anwendung einer falschen, abweichenden Methodik gilt im Islam als unsicher und unzuverlässig.

Darüber hinaus legt der Islam Wert auf die genaue Kenntnis der Wege, auf denen Wissen und Informationen erlangt werden, und empfiehlt den Menschen, die Zuverlässigkeit und Richtigkeit der Informationswege und -quellen zu überprüfen und sicherzustellen, bevor sie den Informationen und Erkenntnissen Vertrauen schenken und ein Urteil fällen. Informationen aus unklaren, zwielichtigen Quellen, die zudem mit offenkundigen Lügen und Widersprüchlichkeiten durchsetzt sind, darf folglich kein Vertrauen geschenkt werden. Hierzu sagt Gott, der Erhabene, im Qur’an (Sure al-¼uºurÁt, Vers 6), dass wenn z. B. ein Frevler mit einer Nachricht kommt, man deren Richtigkeit eindeutig feststellen muss, damit man anderen aus Unwissenheit nichts antut, was man später eventuell bereuen müsste. Ein solches schändliches Verhalten ist nicht nur für die traditionelle Gesellschaft charakteristisch, sondern auch in der modernen Gesellschaft sehr präsent.

Wenn der Prozess der Informationsvermittlung in den pluralistischen Gesellschaften zum Monopol einer bestimmten Gruppierung wird, hat die Freiheit der Rede und der Gedanken keine Bedeutung mehr. Selbst da, wo von einem Medienmonopol verschiedene Gedanken ausgehen und verbreitet werden, kann auf die vermittelten Informationen nicht vertraut werden, da sie ein und derselben Quelle entstammen und deshalb als uniformes Produkt anzusehen sind.

Der Qur’an hat in dem genannten Vers in Bezug auf die Verbreitung und Vermittlung von Nachrichten und Informationen eine wichtige Regel festgelegt, nämlich das Prinzip der Untersuchung und der Interpretation. Dieses Prinzip lehrt uns, dass jede vermittelte Aussage, Nachricht und Information notwendigerweise richtig und klar sein muss. Nach Aussagen des Qur’an sind Medienmonopol und Zensur von Nachrichten pharaonische Methoden. Pharao ist der Name einer im Qur’an erwähnten verabscheuten Person, deren Endziel die Versklavung der Menschen und die Errichtung einer Weltherrschaft war; diesbezüglich berichtet uns der Qur’an, dass Pharao seinem Volk erklärte, er sei die höchste Macht und der Besitzer der Menschen. Der Qur’an bezeichnet die Monopolisierung der Mitteilungen als eine der wichtigsten und wirksamsten Methoden des Pharao, mittels der er sein elendes Ziel erreichen wollte, und im Qur’an wird seine Aussage in Sure ³āfir, Vers 29, angeführt, wo er in seiner Überheblichkeit betonte, dass er seinem Volk den Weg der Rechtschaffenheit zeige, obgleich er es ins Unglück führte. Zusammenfassend können wir festhalten, dass gemäß den Erläuterungen des Qur’an Monopolisierung und fehlender Pluralismus der Medien eine pharaonische Methode ist.

Im Gegensatz dazu sind alle Bemühungen des Islam auf die Beschaffung von Kenntnissen und Informationen ausgerichtet, die eine gesunde und reine Vernunft hervorbringen können. Das bedeutet, dass Nachrichten, Informationen und Kenntnisse, die den Menschen vermittelt werden, ein richtiges und wahrhaftiges Bild von der Realität wiedergeben müssen, damit dem Menschen eine bewusste Entscheidungsfindung ermöglicht wird. Aus diesem Grunde werden die Theorie der klaren Beweise und der Überprüfung der Nachrichten, sowie die Notwendigkeit der Medienvielfalt und der Richtigkeit und Zuverlässigkeit der Nachrichtenquellen als notwendige Voraussetzung für die Realisierung der Rede- und Gedankenfreiheit dargelegt.

Dies ist leider etwas, woran es in der heutigen Welt offensichtlich mangelt. Obgleich heutzutage die Redefreiheit und die Notwendigkeit eines freien Informationsprozesses und -flusses betont werden, haben im Gegensatz dazu Medienimperien die Vermittlung und Analyse der Nachrichten und damit die Führung der Gedanken der Menschen unter ihre Kontrolle gebracht. Sie versuchen, die Urteile und Meinungen der Menschen in eine ihnen nützliche Richtung zu manipulieren. Die Geschichte hat aber gezeigt, dass das wache Gewissen der Menschen in der Welt beim Fällen wichtiger Entscheidungen die Intrigen und den Verrat aller Medien zunichte macht.

Kriterien der Rede- und Meinungsfreiheit

 

Bisher wurden die Ordnungen der Erkenntnislehre und der Methodenlehre erwähnt, aber für die Rede- und Meinungsfreiheit sind auch psychologische Kriterien von Bedeutung.

1. Psychologische Kriterien

Ein weiterer vom Islam bestätigter Aspekt der Rede- und Meinungsfreiheit ist die innere Freiheit als Voraussetzung für eine vollkommenere und bessere Nutzung der äußeren Freiheit.

Im Hinblick auf das bisher Gesagte vertritt der Islam in Bezug auf Freiheit und andere Phänomene die Überzeugung, dass der Mensch einem Endziel zustrebt. Deswegen soll jemand, der die Freiheit richtig und auf die beste Weise nutzen möchte, nicht vom Willen seines egoistischen Selbst beherrscht sein, weil in diesem Fall die Ziele der Freiheit, nämlich das Erreichen von Bewusstsein und dessen Entwicklung, verloren gehen und Freiheit in Unfreiheit verwandelt wird.

2. Ethische Kriterien

Eine besondere Ordnung der Redefreiheit sind aus der Sicht des Islam die ethischen Kriterien, die besagen, dass trotz Rede- und Meinungsfreiheit alle verpflichtet sind, moralische Prinzipien zu beachten, d. h. von der Beleidigung anderer und ihrer Gefühle Abstand zu nehmen. Niemandem steht es zu, unter bewusster Missachtung von Rechten und dem Vorwand der Redefreiheit andere zu erniedrigen, zu beleidigen oder die geheiligte Würde des Menschen zu verletzen.

Aus der Sicht des Heiligen Qur’an sind Überzeugungen und der Glaube des Menschen, selbst wenn sie gänzlich unvernünftig, schwach und überflüssig erscheinen, gleichbedeutend mit einem heiligen Gebot, und zwar wegen der inneren Zuneigung und der Gefühle des Respekts, die den Menschen dazu ermutigen. Mit heiligem Gebot ist hier nicht notwendigerweise etwas Reales gemeint, was eine heilige Wahrheit oder eine metaphysische Essenz besitzt, sondern ein solches heiliges Gebot kann ein inneres Phänomen sein, ein Gefühl oder eine Neigung ohne jegliche vernünftige oder logische Dimension. Deswegen hat niemand das Recht, unter dem Vorwand oder der Berufung auf die Redefreiheit und insbesondere die Ansicht, dass eine Überzeugung unlogisch oder falsch erscheint, respektlos gegenüber den Menschen zu sein, die diese Überzeugungen vertreten.

Götzendienst, Dekadenz und selbst die reaktionärsten Ansichten und menschlichen Gedanken, die keiner Logik entsprechen, aber zu diesen gerade beschriebenen Überzeugungen gehören und von den Menschen respektiert und geliebt werden, dürfen aus islamischer Sicht nicht beschimpft oder beleidigt werden. Ferner muss darauf hingewiesen werden, dass wissenschaftliche Analysen und theoretische Debatten und Themen nicht mit Beschimpfungen und Beleidigungen beschmutzt werden dürfen. Jeder hat das Recht, verschiedene Ideen wissenschaftlich zu analysieren, aber er ist nicht berechtigt, zu erniedrigen und zu beleidigen.

Jemand, der seine Überzeugungen und das, was ihm heilig ist, von anderen respektiert sehen möchte, muss gleichermaßen die Überzeugungen anderer und alles, was diesen heilig ist, respektieren. So finden wir im Heiligen Qur’an das klare und deutliche Gebot für die Monotheisten, den Überzeugungen der Götzendiener mit Rücksicht zu begegnen. Durch das Aufwiegeln von Gefühlen wird Rachsucht provoziert, und diese bewirkt, dass sich andere ihrerseits gegenüber dem Monotheismus respektlos zeigen.

Diesem Prinzip zufolge ist das Beschimpfen und Beleidigen von göttlichen Propheten, den heiligsten und am meisten geehrten Persönlichkeiten in der Geschichte, denen sich Milliarden von Menschen mit Herz und Gefühl verbunden fühlen, gänzlich anders zu beurteilen als eine Verunglimpfung wissenschaftlicher Analysen von Ideen und religiösen Überzeugungen; denn während gegen die wissenschaftliche Beschäftigung mit religiösen Ideen nichts einzuwenden ist, stellt die Beleidigung und Beschimpfung von heiligen Persönlichkeiten eine große Sünde dar, - eine Tatsache, die von vielen, die sich auf Redefreiheit berufen und sich erlauben, die Heiligkeit der Religionen und der großen Propheten des Islam (der Frieden und Segen Gottes sei auf ihnen) zu beleidigen, nicht verstehen. Die größte Unterdrückung und das größte Unrecht in Bezug auf Freiheit und Menschenrechte besteht in der Beschimpfung, Unhöflichkeit, Beleidigung und dem Verletzen der reinen und tiefen Gefühle und Neigungen des Menschen.

3. Rechtliche Kriterien

Die Redefreiheit, eines der grundsätzlichen, natürlichen Rechte des Menschen, wird aber wie jedes andere Recht auch begrenzt durch die Rechte der anderen Menschen. Redefreiheit kann niemals die Verletzung der Rechte von anderen implizieren, und folglich ist die Achtung und das Zugestehen der Rechte der anderen das wichtigste rechtliche Kriterium der Redefreiheit. Anderen Menschen zu schaden kann sich auf unterschiedlichste Weise manifestieren. Wenn z. B. jemand in der Absicht, andere zu verderben, eine freundschaftliche und herzliche Beziehung zu Menschen aufnimmt, um diese Freundschaft dann auszunutzen, indem man mit den Feinden dieser Menschen ein Bündnis eingeht, dann hat die Freiheit hier keinen Platz. Der Abfall vom Islam (Apostasie) muss ebenfalls aus dieser Perspektive gesehen werden. Der Islam zwingt niemanden, etwas einfach zu akzeptieren und jegliche Zweifel an religiösen Aussagen zu verneinen, vielmehr gilt es, wissenschaftliche Untersuchungen mit entsprechenden Forschungszielen zu berücksichtigen. Solche wissenschaftlichen Debatten sind für die Entwicklung und das Gedeihen der Gedanken und der Kraft der Vernunft im religiösen Denken sogar wesentlich. Deshalb werden die wichtigsten Zweifel hinsichtlich religiöser Fragen von den großen islamischen Gelehrten diskutiert, weil dies grundsätzlich zur Überzeugung der Vernunft und Klarheit der religiösen Gedanken beiträgt, die Gewissheit in religiösen Überzeugungen stützt und gleichzeitig einer geistigen Aussichtslosigkeit in wissenschaftlichen Fragen über religiöse Grundsätze, die einen Abfall vom Islam verursachen können, entgegenwirkt. Wenn die juristischen strafrechtlichen Bestimmungen dies als Abfall vom Islam verurteilen wollten, dann müssten zuerst viele islamische Philosophen, Intellektuelle und Denker verurteilt werden.

Den Abfall vom Islam definieren spezielle rechtliche Vorschriften und Bestimmungen, die den Vorstellungen von vielen Menschen, die die islamischen Prinzipien hinsichtlich des Denkens und der Vernunft als Grundlagen des islamischen Rechts nicht kennen, widersprechen. Nur in den seltensten Fällen, in denen andere durch wissentlich falsche Propaganda und Vermittlung verdorben werden sollen, gegen religiöse heilige Gedanken oder Dinge gehetzt wird und ohne im Sinne der Wahrheitssuche forschen zu wollen gegen religiöse Überzeugungen propagiert wird, kann man von Apostasie ausgehen. In der islamischen Lehre gilt das Apostasieurteil nur für Muslime, die wissentlich und bewusst die Wahrheit über das Wesen des Islam verleugnen und zur Wahrung ihrer eigenen egoistischen Motive unter der absichtlichen Instrumentalisierung anderer Menschen missbrauchen und manipulieren, und deren Denken und Motiven muss widersprochen werden.

Der Abfall vom Islam wird im islamischen Recht mit dem Begriff „¹a½d“ bezeichnet. ¹ahd bedeutet Negierung und Ablehnung von religiösen Grundüberzeugungen aufgrund von Eigensinn und Streitsüchtigkeit, bloßer Feindlichkeit, Habgier und bewusstem Vorsatz. Ein ¹Áhid ist derjenige, der die Überzeugungen wider sein wissenschaftliches Bewusstsein verneint und ablehnt. Apostasie trifft nicht zu auf wissenschaftliche Untersuchungen und auch nicht auf diejenigen, die eine tiefe Kenntnis und Vernunft im Hinblick auf die islamischen
Überzeugungen vermitteln, diese aber aufgrund schwacher wissenschaftlicher Grundlagen und einem fehlendem Bewusstsein von den festen Grundlagen und Prinzipien der Religion verneinen. Sie unterstehen nicht diesem Urteil, selbst diejenigen nicht, die vorsätzlich und aus Habgier aus der Religion austreten, aber die Hetze gegen die Religion unterlassen. Das Urteil „Abfall vom Islam“ wird nur dann ausgesprochen, wenn zwei Bedingungen zusammen treffen und gleichzeitig vorhanden sind: Erstens habgierige, vorsätzliche und verbrecherische Motive und zweitens die kriminelle Durchführung. Fehlt eine dieser Bedingungen, kann man nicht vom Abfall vom Islam sprechen.

Wir können in diesem Zusammenhang also feststellen, dass die Fälle, in denen das Urteil „Abfall vom Islam“ zutrifft, an einer Hand abzuzählen sind. Die rechtliche Bestimmung hierzu basiert im islamischen Rechtssystem auf vernünftiger und verständlicher Logik, wobei ein Strafurteil auch eine symbolische Bestimmung ist, mit deren Hilfe die Sauberkeit und Reinheit des Denkens auf der religiösen Ebene und der heiligen Gegenstände und Stätten verantwortet wird. Das bedeutet, dass die Verschmutzung des religiösen Denkens, gekennzeichnet durch unwissenschaftliches Vorgehen und dem Vorhandensein von egoistischen Motiven, verhindert werden soll.

Deswegen zielt das Urteil Abfall vom Islam im Gegensatz zu dem, was übertriebene Eiferer und jene, die mit den wahren islamischen Gedanken nicht vertraut sind, auf den Schutz der Rede- und Meinungsfreiheit und die Verteidigung der Würde des Menschen ab, denn alles Heilige und die heiligen religiösen Überzeugungen sind die tiefsten und erhabensten Phänomene, die von Milliarden von religiösen Menschen geliebt werden und zu denen sie eine tiefe unzertrennbare Verbindung aufgebaut haben. Welche Strafe kann für jemanden, der diese Gefühle missachtet und außerhalb jeglicher Vernunft verletzt, in Betracht gezogen werden?

Ohne Zweifel stellen das Respektieren und die Würdigung dieser Gefühle einen der klarsten Aspekte im Rahmen der Anerkennung der Menschenrechte dar. Die Gefühle und Neigungen des Menschen gehören zur existentiellen Dimension seiner Persönlichkeit, in der Art, dass einige dieser Gefühle und Neigungen sogar höher als das Leben angesehen werden. Eine Mutter, die sich für ihr Kind aufopfert, opfert sich tatsächlich für ihre mütterlichen Neigungen und Gefühle auf. Es stellt sich die Frage, was zu tun ist, wenn diese tiefen Gefühle auf schlimmste Art verletzt und beleidigt werden. Die große Wichtigkeit dieses Anliegens erfordert Maßnahmen und Pläne, die dazu beitragen können, dass Gefühle und die damit verbundene Würde des Menschen nicht einfach verletzt werden können. Es ist eine Tatsache, dass grundlegende vernünftige religiöse Bestimmungen durch extreme Auslegungen seitens ungebildeter Muslime missbraucht werden können, aber unbewusste und unvernünftige Handlungen haben keine Beziehung zum Islam und Muslimsein.

Rechtliche Regeln der Meinungsfreiheit

 

Mit Recht sind hier die Gesetze und der Rahmen gemeint, die das Verhältnis der Freiheit des Individuums zur Freiheit der anderen in Beziehung setzt. Die Freiheit des Individuums wird so definiert, dass sie eine Verletzung der Rechte und Freiheit der anderen nicht zulassen kann. Wenn wir von den rechtlichen Regeln der Gedankenfreiheit reden, sind damit die Regeln gemeint, deren Berücksichtigung eine Beeinträchtigung der Rechte der anderen mit dem Argument der Gedanken- und Meinungsfreiheit verhindern. In Wirklichkeit bewirkt die Berücksichtigung der rechtlichen Regeln, dass nicht nur einer Minderheit das Recht auf Freiheit zugestanden wird, sondern dass alle Menschen in der Gesellschaft dieses Recht bekommen können.

Die Meinungsfreiheit ist das grundlegendste natürliche Recht des Menschen. Aber dieses Recht wird wie andere Rechte durch die Grenzen der Rechte der anderen Menschen begrenzt. Man kann die Meinungsfreiheit nicht so praktizieren, dass dadurch Rechte anderer beeinträchtigt werden. Deshalb besteht die wichtigste rechtliche Regel der Meinungsfreiheit in der rechtlichen Berücksichtigung, dem Nutzen der Menschen und der Wahrung der Rechte der anderen. Anderen Menschen zu schaden kann sich auf unterschiedliche Weise manifestieren, beispielsweise wenn jemand nach einer langen Freundschaft und freundlichen Beziehung diese Freundschaft ausnutzt, sich mit den Feinden dieser Person zusammentut und ihr absichtlich schadet, dann kann man ein solches Verhalten nicht mit dem Recht auf Freiheit erklären.

Die Thematik Abfall vom Glauben im Islam muss aus dieser Perspektive heraus gesehen werden. Der Islam zwingt niemanden, den Islam zu akzeptieren, und jede Art von Ungewissheit und Infragestellen der religiösen Vorschriften ist zulässig, sofern sie von der wissenschaftlichen Absicht getragen ist, die Bedingungen zu erforschen und zu untersuchen. Vielmehr empfiehlt der Islam eine solche wissenschaftliche Diskussion und sieht das als notwendig für die Entwicklung und Fruchtbarkeit der Gedanken an. Weil der Islam die Notwendigkeit der Stärkung der religiösen Gedanken durch solche wissenschaftlichen Diskussionen sieht, wurden die wichtigsten Fragestellungen und religiösen Fragen von großen islamischen Gelehrten aufgeworfen, denn sie waren um einen Glauben auf der Grundlage tiefgründiger Rationalität und Stabilität der religiösen Gedanken bemüht und wollten diese Stabilität und Stärke auch den anderen Menschen deutlich machen.

Wenn Abfall vom Glauben durch wissenschaftliche Fragestellungen zu den religiösen Themen und dem religiösen Glauben verursacht wird und zur Verurteilung und zu speziellen Rechtsstrafen führt, dann hätten viele Philosophen und islamische Denker gemäß diesem Urteil verurteilt werden müssen. Abfall vom Glauben ist ein spezielles Rechtsurteil, das im Unterschied zur Vorstellung vieler Menschen, die mit den Vorstellungen und Rechtsvorschriften im Islam nicht vertraut sind, einzig und allein in wenigen, sehr besonderen und selten vorkommenden Fällen gültig wird. Das Urteil wird jemanden nur dann treffen, wenn er absichtlich die heiligen religiösen Glaubensinhalte der Menschen schädigt und dagegen propagiert; ohne die geringste Absicht, die Wahrheit herauszukristallisieren und zu erforschen stellt er sich gegen sie und glaubt nicht an die grundlegenden Glaubensinhalte und die sichersten religiösen Vorschriften. Im islamischen Recht ist das Urteil Abfall vom Glauben nur bei den Menschen zulässig, die, obwohl sie sicheres Wissen über die Wahrheit des Islam haben und obwohl sie der Argumentation des Islam zustimmen, aus Nützlichkeitsdenken heraus ihr Muslim sein ausnutzen und von der Absicht getragen sind, die Heiligkeiten zu beschimpfen und zu zerstören, sich gegen die Heiligkeit engagieren und diese ablehnen. Wenn nun jemand diese tiefen Gefühle auf übelste Art und Weise beschädigt, beschimpft und beeinträchtigt, dann hat er die Grenze und den Rahmen der Meinungsfreiheit überschritten und die Rechte der anderen verletzt. Andererseits muss man den Denkern und Forschern das Recht zugestehen, die Freiheit und Möglichkeit zu haben, die Gedanken - auch religiöse Gedanken - zu kritisieren und wissenschaftlich zu bearbeiten. Wenn die Akzeptanz der Religion auf Argumentation und Rationalität basiert, wie können einige Extremisten und Dogmatiker sich erlauben, im Namen der Religion ein Hindernis für die Meinungsfreiheit und Gedankenfreiheit zu werden?

Die religiösen Autoritäten und der Prophet des Islam waren die größten Vorbereiter der Meinungs- und Gedankenfreiheit. Große Persönlichkeiten wie Imam Baqir (a.s.), Imam Sadiq (a.s.) und Imam Reza (a.s.) waren selbst Begründer von Kreisen, die die religiösen Ideen, Ansichten und Gedanken kritisch und wissenschaftlich behandelt haben. Die wichtigsten und tiefsten wissenschaftlichen Kritiken fanden in der Gegenwart dieser Imame statt. Wenn wir das Leben dieser religiösen Autoritäten und unfehlbaren Imame berücksichtigen erkennen wir deutlich, dass es aus ihrer Sicht kein Verbot und keine Grenzen für eine wissenschaftliche Kritik religiöser Gedanken gab. Wir sehen, dass die Tat der Extremisten, die heutzutage im Namen der Religion die Gedankenfreiheit bekämpfen und Dogmatismus und Oberflächlichkeit verbreiten, mit dem Leben und der Lehre der Imame und religiösen Autoritäten überhaupt nicht übereinstimmt. Nach Ansicht mancher religiöser Extremisten müsste auch das Wirken des Propheten und der anderen religiösen Persönlichkeiten als unreligiös und falsch angesehen werden. Wir haben es oft gesagt und betonen es nochmals, dass zwischen der Tat mancher Muslime und der wahren islamischen Lehre differenziert werden muss. Niemals darf das Verhalten und Agieren dieser Gruppe von Muslimen, die für Gewalt und Zwang eintreten, anstatt den Gedankenaustausch und Dialog zu suchen, zum Maßstab für das Urteil über den Islam und alle Muslime gemacht werden. Die Extremisten propagieren ihre persönliche Meinung im Namen des Islam, obwohl sich der Islam und die Muslime vom Verhalten und Tun dieser Menschen distanzieren und mit aller Deutlichkeit jede Art von Gewalt, die im Namen der Muslime stattfindet, verurteilen. Der Prophet des Islam hat zwei Gruppen von Menschen von sich ferngehalten. Die erste Gruppe waren die Wissenschaftler, die die Wissenschaft nicht mit Moral in Einklang brachten, und die zweite Gruppe waren die unwissenden oberflächlichen und dogmatischen Gläubigen.

Eine wichtige Anmerkung

Die heiligen islamischen Quellen (Qur’an und Sunna) sind interpretierbar; bei vielen qur’anischen Versen kann man die äußere Bedeutung nicht als Maßstab und Grundlage heranziehen. Der Qur’an selbst betont diesen klaren Punkt und unterteilt seine Verse in zwei Kategorien: Erstens Verse, deren Bedeutung vollkommen klar und deutlich ist (ÁyÁte mo½kam - eindeutige Verse), und zweitens Verse, deren Bedeutung nicht vollkommen klar ist und die interpretiert werden müssen (ÁyÁte mutaÊÁbih – mehrdeutige Verse). Dem Qur’an zufolge sind die eindeutigen Verse die Wurzel und wesentliche Grundlage des Heiligen Buches, die man für die Interpretation der mehrdeutigen Verse zu Hilfe nehmen muss. Bei der Interpretation eines jeden Qur’anverses muss der gesamte Qur’an, und nicht nur ein Teil davon, berücksichtigt werden. Der Qur’an stellt fest: „Er ist Gott, der das Buch (Qur’an) auf dich (Mohammad) herabgesandt hat. Ein Teil dieses Buches sind die eindeutigen Verse (mit einer klaren und deutlichen Bedeutung), und diese Verse sind die Mutter (Wurzel) dieses Buches (Qur’an) dar. Und ein Teil dieses Buches sind mehrdeutige Verse, (die der Interpretation bedürfen). Diejenigen, in deren Herzen Abweichungen und Krankheiten vorhanden sind, benutzten die mehrdeutigen Verse, um Zwietracht zu verursachen, und sie wollen die Verse aus sich selbst heraus interpretieren,  obwohl niemand die Interpretation dieses Buches kennt, außer Gott und denjenigen, die ein tiefes Wissen über alle Qur’anverse haben. (Qur’an, Sure Ale-þImrÁn, Vers 7).

Wir sind darum bemüht, die Qur’anverse mittels der vom Qur’an selbst erklärten Methode zu interpretieren, und nicht nach persönlichem Interesse zur Rechtfertigung von Tradition, Kultur oder einer persönlichen Überzeugung, damit wir wissen, was der Qur’an sagt. Was Sie nun in Händen haben, ist eine Bemühung in dieser Hinsicht.

[1] Ali ibn Abi Talib: Bittgebet des Kumayl, Qum: Ansaryan Book Sellers 1996, S. 11.

[2] Vgl. Qur’an, Sure Sad, Verse 71-78.

[3] Ebd., Sure al-Baqara, Vers 30.

[4] Ebd., Vers 31.

[5] Vgl. Qur’an, Sure al-Baqara, Vers 256, und Sure al-InsÁn, Vers 3.