Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.

 

 

Das Thema „Islam in Europa oder europäischer Islam?“ wirft die Frage auf, ob Religion und religiöse Lehren generell mit unterschiedlichen Kulturen kompatibel sind. In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass einige islamische Vorschriften mit Sitten und Werten der unterschiedlichen Gesellschaften vermischt und damit in Einklang gebracht werden, und zwar auf zweierlei Weise:

1. In manchen Fällen, insbesondere im gesellschaftlichen Bereich, kommt es vor, dass der Islam keine Empfehlung oder besondere Lehre hat, d. h. er hat sich darüber nicht geäußert, sondern hat Stillschweigen bewahrt. In solchen Fällen sieht er die Traditionen und gesellschaftlichen Werte als Grundlage und Maßstab der Praxis an.[1] Ehre

2. Fälle, in denen die Gebote und islamischen Lehren grundsätzlich erklärt wurden, die zu praktizierende Form aber nicht genau bestimmt wurde und folglich jede Form und Gestalt ein bestimmtes Ziel bewahren kann. Zu dieser Form von Geboten gehört z. B. das Prinzip der islamischen Bekleidung (hidschab), d. h. dass Frau und Mann in der Öffentlichkeit eine entsprechende Bekleidung tragen und sich jeder Art der Blöße fernhalten sollen. Das ist ein islamisches und qur’anisches Gebot. Aber welche Form und welches Aussehen diese Bekleidung haben soll, ist eine gänzlich kulturelle Angelegenheit, die sich den Werten und Strukturen der verschiedenen Gesellschaften anpassen soll. Deshalb verursacht hier das Einhergehen der qur’anischen Gebote mit gesellschaftlich-kulturellen Strukturen kein Problem. Aber diese zwei Dinge darf man nicht miteinander vermischen, und man darf kulturelle Angelegenheiten nicht als islamische Lehren vorstellen, sondern es ist geboten, beides voneinander zu trennen.

Die Bedeutung dieser Differenzierung und Trennung liegt darin, dass man die islamischen Lehren und Gebote in solchen Fällen aus dem begrenzten Anspruch eines bestimmtes Volkes oder einer bestimmten Kultur herausnimmt und ihnen eine Flexibilität verleiht, die sie mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Kulturen und Strukturen kompatibel sein lassen. Aus dieser Sicht unterscheiden sich ein arabischer, persischer, afrikanischer oder europäischer Muslim im Hinblick auf das Muslimsein und die Berücksichtigung der islamischen Gebote nicht voneinander. Aber hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Werte und der praktischen Umsetzung vieler dieser Gebote weisen sie deutliche Unterschiede auf, und diese Unterschiede bestimmen die be-
“         Was ihr Gutes habt, es ist von Gott.“
sondere Identität und Persönlichkeit eines jeden von ihnen. Wenn vom Einheimischwerden des Islam in der europäischen Gesellschaft oder dem europäischem Islam die Rede ist, kann man in aller Deutlichkeit auf diese zwei Arten (die miteinander vermischt sind) verweisen und darauf aufmerksam mchen. 

Hier sehen wir, dass diese Vermischung von Geboten und islamischen Lehren und den Qur’aninter-pretationen in keinem dieser beiden erwähnten Fälle ein Aufzwingen dieser Kulturen und gesellschaftlichen Werte auf das Wesen der Gebote und Lehren oder ihre Beteiligung beim Verstehen und der Interpretation des Qur’an bedeuten, sondern diese Vermischung und dieses Einhergehen ist genau definiert und findet in einem unabhängigen Bereich statt. Anders gesagt: Diese Vermischung impliziert das harmonische miteinander Einhergehen von zwei unabhängigen Identitäten (d. h. die islamischen Gebote und kulturellen Werte haben jeweils eine unabhängige und voneinander getrennte Identität, zwischen denen jedoch Harmonie und Verständnis vorhanden sind, und keine von beiden verneint oder lehnt die jeweils andere ab). Man darf sich für diese beiden niemals eine einheitliche Identität vorstellen, d. h., wenn eine von diesen beiden auftritt, muss die andere notwendigerweise nicht ebenfalls präsent sein. Die Gleichstellung von Islam und Kultur ist genau der große Fehler derjenigen, die die Absicht hatten und haben, die kulturellen Werte einiger islamischen Gesellschaften in der Vergangenheit und der Gegenwart im Namen des Islam und des Qur’anverständnisses auf alle Muslime in allen Gesellschaften zu übertragen. Das Ergebnis einer solchen falschen Sichtweise wäre z. B. das Muslimsein in einer westlichen Gesellschaft mit arabischer, türkischer oder persischer Kultur. Bedauerlicherweise sind die Zeichen dieser falschen Sichtweise nicht nur unter gewöhnlichen muslimischen Menschen, sondern auch bei einigen Gelehrten, Denkern und sogar muslimischen Intellektuellen zu sehen. So können wir z. B. beobachten, dass manche arabische muslimische Schriftsteller und Denker das islamische Denken noch immer mit dem arabischen Denken gleichsetzen, und sie nutzen die Besonderheit der arabischen Sprache des Qur’an, des Ausgangsortes des Islam (d. h. dass der Islam auf der Arabischen Halbinsel entstanden ist) und des islamischen Denkens dazu, um den Islam mit der arabischen Kultur und Tradition gleichzusetzen.

In Prinzip sind Begriffe und Werte, die jeder Gesellschaft und Nation grundsätzlich ihre Identität verleihen, nichtreligiöse Begriffe, die man nicht mit religiösen Begriffen gleichsetzen kann. Aber gleichzeitig sind diese gesellschaftlichen und nationalen Werte und Begriffe nicht nur nichtreligiös und gegen Religion an sich, und deshalb besteht in jeder Gesellschaft die Möglichkeit zu dieser Übereinstimmung mit den religiösen Begriffen und diesem Verständnis.

Wo von europäisch die Rede ist, kann man genau auf diese zwei Bestandteile (d. h. diese zwei miteinander vermischten Teile) verweisen, und es ist nur natürlich, wenn in manchen Fällen, in denen die allgemeinen Gebote und die wahre islamische Lehre mit manchen kulturellen Sitten und gesellschaftlichen Werten vermischt werden, es für europäische Muslime die Kultur und die gesellschaftlichen Werte der europäischen Gesellschaft sind, die an diesem Austausch teilhaben sollen, und nicht die Kultur und Struktur anderer islamischer Gesellschaften. In diesem Fall darf man niemals importierend vorgehen. Deshalb haben die Muslime, egal wo und in welcher Gesellschaft sie leben, ungeachtet ihrer einheitlichen und gemeinsamen islamischen Identität, die auf gemeinsamen Glaubensüberzeugungen und Verhaltensweisen gründet, die letztlich aus islamischen Geboten und Lehren resultieren, unterschiedliche Kulturen und Strukturen entsprechend der Gesellschaft, der sie angehören.

Dieser Erwartung entspricht selbstverständlich, dass der arabische, türkische, persische, afrikanische und europäische Muslim eine gemeinsame islamische Identität haben und sie den islamischen Lehren und Geboten gleichermaßen treu sind. Aber man kann niemals erwarten, dass der europäische Muslim den kulturellen Rahmen, den die anderen Muslime praktizieren, nachahmt. Zweifellos weist der europäische Muslim aufgrund der Tatsache, dass er der europäischen Gesellschaft mit ihrer speziellen Struktur und Kultur angehört, gewisse Unterschiede zu Muslimen in anderen Gesellschaften auf. Deswegen habe ich wiederholt betont, dass man in Europa an die europäischen Muslime denken muss und nicht an Muslime in Europa.

Anmerkungen:

[1] Der Islam hat hinsichtlich der Bekleidung von Frau und Mann, grundsätzlich ihrer Erscheinung in der Gesellschaft und der Form ihres gesellschaftlichen Verhaltens betont, dass die Tradition, in der man lebt, berücksichtigt werden soll, und dass jeder Widerstand gegen die vorhandene Sitte der Gesellschaft in diesem Zusammenhang verboten ist. Selbst wenn jemand einen hohen religiösen Rang hat, muss unter Berücksichtigung seines Rangs und der ihm entgegengebrachten Achtung, seine Legitimation ernsthaft überprüft werden, wenn er Strukturen umstrukturiert, dagegen verstößt und ein unnatürliches, gegen die in dieser Gesellschaft vorhandenen Tradition gerichtetes Verhalten zeigt. S. z. B. Al-mad½al al-fuqaha’ al-þÁm, S. 53; Jawahir al-Islam, Bd. 23, S. 263, al-þuÈÚl al-þÁmma lil-fiqh al-muqÁrin, S. 422.