slamisches Recht
Erlaubt der Koran die Steinigung?
Der Islam verlange bei Ehebruch die Steinigung, sagen viele Muslime. Das ist falsch. Denn eine kritische Interpretation des Korans zeigt, dass dieser sich gegen diese Hinrichtungsart verwehrt. Nach dem Urteil von Ayatollah Ghaemmaghami ist eine andere Deutung des Textes nicht möglich.
Lesen, was drinsteht: der Koran verliert kein Wort über Steinigung
17. November 2010
Alle islamischen Koran-Interpreten und Gelehrten sind sich in der Methodologie der Koran-Auslegung darin einig: Wenn der Koran als erste authentische Quelle sich zu einem Tatbestand nicht geäußert oder nicht deutlich dazu Stellung bezogen hat, ist es die Aufgabe der „sunnat“ (Tradition) als zweite authentische Quelle, anhand von Überlieferungen eine Antwort auf offene Fragen zu liefern. Was in der Tradition dann als Überlieferung festgelegt worden ist, wird als gültig und bindend betrachtet.
Die Tradition wird also neben dem Koran als eine wichtige und gültige Quelle angesehen. Es gibt aber zwischen beiden Quellen zwei große Unterschiede. Erstens ist die Tradition erst nach dem Koran von Bedeutung und kann niemals den Koran ersetzen. Damit darf die Tradition erst herangezogen werden, wenn es im Koran selbst zu einer Sache entweder keine Aussage gibt oder wenn die Sache interpretationsbedürftig erscheint.
Macht der Überlieferung
Der zweite große Unterschied zwischen Tradition und Koran ist: Nicht alle in den verschiedenen Überlieferungssammlungen stehenden Vorschriften werden von islamischen Interpreten und Gelehrten einstimmig als gültig und zuverlässig anerkannt. Viele dieser Überlieferungen entbehren einer Authentizität und historischen Echtheit. Man kann also nicht sicher sein, dass manche dieser Überlieferungen tatsächlich auf den Propheten Mohammad und Imame zurückgehen. Auch die gültigen Überlieferungen besitzen nicht alle den gleichen Echtheitsgrad. Diese Tatsache beeinflusst ihre Beweiskraft und Anwendung. Die Feststellung der Echtheit oder Unechtheit einer Überlieferung bedarf einer qualifizierten und methodisch einwandfreien Forschung. Auf diesem Gebiet sind deshalb zwei wissenschaftliche Disziplinen innerhalb der islamischen Wissenschaften entstanden.
Hinzu kommt folgende Einschränkung: Nachdem die Echtheit einer Überlieferung aus historischer Sicht nachgewiesen ist und feststeht, dass diese Überlieferung ohne Zweifel auf den Propheten oder seine Gefährten zurückgeht, müssen wir ihren Sinn überprüfen und ihre Gültigkeit hinsichtlich ihres Aussagewertes einer wissenschaftlichen Überprüfung unterziehen. Es kommt vor, dass manche Überlieferungen sich aus der Sicht der geschichtlichen Echtheit als problemlos erweisen, aber im Hinblick auf ihren Sinn und Gehalt problematisch erscheinen, so dass wir uns nicht mit Sicherheit auf sie berufen können. Überlieferungen müssen mit der Vernunft übereinstimmen und dürfen nicht dem Sinn der geltenden Botschaften des Korans widersprechen. Viele der islamischen Gelehrten haben sich in ihren Forschungen dieser zwei Prinzipien bedient.
Sünde ist nicht gleich Straftat
Die Gesamtheit dieser Bemühungen zur Feststellung der Gültigkeit und Wertigkeit von in islamischen Texten vorhandenen Überlieferungen und die Versuche einer methodisch einwandfreien Interpretation des Korans und der Tradition wird „Idschtihad“ (selbständiger Rechtsfindungsprozess) genannt. „Idschtihad“ ist also die Summe aller Erkenntnismethoden, die zum Verstehen und Auslegen der islamischen Texte benötigt werden. Diese hängen aber mit der Weltanschauung und geistigen Persönlichkeit derjenigen zusammen, die eine Kompetenz zur Rechtsfindung besitzen. Die entsprechenden unterschiedlichen Lesarten und Interpretationen des islamischen Denkens bilden im Islam einen „innerreligiösen Pluralismus“.
Ein einwandfreier Rechtsfindungsprozess zeigt, dass der Islam zwischen Sünde und Straftat unterscheidet. Unter Sünde versteht der Islam die persönlichen und privaten Verfehlungen eines Menschen in seiner eigenen Sphäre, ohne damit der Gesellschaft Schaden zuzufügen. Eine Straftat ist aber eine Handlung mit gesellschaftlichen Folgen und kann Mitmenschen schädigen. Deshalb erstellt die Gesellschaft auf demokratischer Basis ein Gesetz, das dafür eine Strafe vorsieht. Solange die Sünde nicht in eine Straftat einmündet, bleibt sie ohne diesseitige weltliche Bestrafung. Der Sünder hat durch seine Tat die Möglichkeit einer Bestrafung im Jenseits geschaffen und kann daher eine göttliche Strafe erfahren (ob Gott diese Bestrafung vornimmt oder nicht liegt allein in seiner Entscheidung).
Sexuelle Handlungsverbote (wie Ehebruch) gehören zur Kategorie der Sünden beziehungsweise Hauptsünden und betreffen das Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Die in islamischen Texten für diese Vergehen vorgesehenen Strafen sind keine individuellen Angelegenheiten, so dass jeder Muslim zu ihrer Vollstreckung verpflichtet wäre. Vielmehr betreffen sie die islamische Gemeinschaft als Ganze. Unter islamischer Gemeinschaft verstehen wir eine Gemeinschaft mit zwei Hauptmerkmalen: Die Gemeinschaft wird mehrheitlich von Muslimen gebildet, und die Mehrheit der Muslime hat in einem demokratischen Willensbildungsprozess aus freien Stücken einen Teil der „Scharia“ oder ihre Gesamtheit in die Gesetzgebung ihres Volkes aufgenommen.
Ehebruch ist in Normalfall keine Straftat
Es ist selbstverständlich, dass in einer demokratisch orientierten Gesellschaft die Gesetze aus verschiedenen Quellen abgeleitet werden können. Wenn diese demokratisch orientierte Gesellschaft eine islamische ist, könnte die Scharia eine Quelle der Gesetzgebung werden. Man kann auch andere Quellen (wie es in anderen Gesellschaften der Fall ist) zur Grundlage der Gesetzgebung machen.
Ehebruch gehört zu jenen Sünden, die keine diesseitige Strafe nach sich ziehen, solange sie nicht zu einer Straftat werden. Bis sie zu einer Straftat wird, müssen sehr strenge Bedingungen erfüllt und Hürden überwunden werden. In diesem speziellen Fall sind die Voraussetzungen und Bedingungen derart hoch gesteckt, dass sie kaum zu realisieren sind. Daraus kann geschlossen werden, dass der Sinn dieser Bedingungen darin liegt, eine Bestrafung dieser Sünde auf dieser Welt auszuschließen und gleichzeitig die Verhinderung dieser Sünde anzustreben.
Kein Wort über Steinigung
Nach diesen etwas ausführlichen, aber wichtigen Vorbemerkungen möchte ich mich nun mit der Steinigung als Strafe befassen. Im Koran finden wir keine Bestätigung dieser Strafmethode. Wenn wir Gründe oder Anhaltspunkte dafür hätten, dass der Koran diese Strafe bejaht oder verneint hat, dann wäre es nicht mehr angebracht, uns der Überlieferung zuzuwenden. Nach Meinung vieler islamischen Gelehrten und Interpreten hat der Koran diese Thematik behandelt und eine Bestrafung durch Steinigung nicht akzeptiert.
Im Alten Testament wird mindestens zehn Mal für mindestens sieben Sünden (darunter Unzucht) die Todesstrafe durch Steinigung genannt. In manchen anderen Fällen ist die Tötung durch Schwert erwähnt. Auch im Neuen Testament wird die Geschichte der beabsichtigten Steinigung einer Frau durch das Volk unter Anwesenheit von Jesus erzählt, was letztlich in die Befreiung der Frau durch Jesus endet. Außerdem zeigen historische Forschungen, dass es bei vielen Völkern die Sitte gab, als Ausdruck von Abneigung, Hass und Ablehnung eines Menschen ihn mit kleinen Steinen zu bewerfen. Wenn also diese Strafmethode vom Koran anerkannt worden wäre, dann sollte es erwartungsgemäß im Koran ausdrücklich erwähnt werden. Aber der Koran lässt dies nicht nur unerwähnt, sondern bezeichnet es in sechs Fällen alle als Bestrafung von wohltätigen und gläubigen Menschen sowie einiger Gesandten Gottes, wie beispielsweise Abraham, Noah und Moses, durch ihre Gegner. In allen Fällen wird diese Vorgehensweise als negative und ablehnungswürdige Tat bezeichnet.
Hätte nach diesen Ausführungen der Koran für die Unzucht überhaupt keine Strafe genannt, könnte man daraus folgern, dass man auf Überlieferungen zurückgreifen soll. Dies ist aber nicht der Fall, denn der Koran hat ganz deutlich von einer Bestrafung der Unzucht gesprochen und sogar dafür eine gesetzliche Regelung vorgesehen. Warum wird aber nicht von Steinigung gesprochen? Warum soll ein Teil des Gesetzes erwähnt und ein anderer Teil unerwähnt bleiben, zumal diese Strafmethode bei den Religionen und im Gewohnheitsrecht der Menschen der damaligen Zeit als eine bekannte und anerkannte Sitte verbreitet war? Die Adressaten der koranischen Botschaft hätten erwartet, dass der Koran sich hinsichtlich der Anerkennung oder Ablehnung der Steinigung als Strafe äußert.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass unter allen islamischen Rechtsschulen Einigkeit darüber besteht, dass der in der vorliegenden Form existierende Korantext der Offenbarung Gottes an den Propheten Mohammad entspricht, und zwar ohne jegliche Hinzufügung oder Streichung von Texten. Aus diesem Grund betrachten die Interpreten und Scharia-Gelehrten Überlieferungen als nicht gültig, wenn die Aussagen der Hadithe von einer Streichung von Korantexten ausgehen.
Im Vers 2 der Sure „Nour“ (24) werden als Strafe für Unzucht einhundert Peitschenhiebe verordnet: „Eine Frau und ein Mann, die Unzucht begehen, geißelt jeden von ihnen mit einhundert Hieben“. Es gibt Meinungen, dass aus diesem Vers nicht eindeutig hervorgeht, ob diese Strafe für alle gilt und eine absolute Bestimmung darstellt. Da in der Überlieferung für Unzucht bei verheirateten Personen die Steinigung vorgeschrieben sei, könne davon abgeleitet werden, dass die Bestimmung in diesem Vers nur auf unverheiratete Personen zutreffe. Gegen diese Meinung sprechen aber andere Verse im Koran, welche einer solchen Argumentation widersprechen. So heißt es in einem Teil des Verses 25 der Sure „Nisa“ (4) im Hinblick auf Einschränkungen, die die Gesellschaft diesen Frauen auferlegt hat: „soll ihnen (nur) die Hälfte der Strafe zukommen, die ehrbaren Frauen zukommt“.
Was wäre ein halber Tod?
Nun stellt sich folgende Frage: Wenn wir annehmen, dass die Strafe für verheiratete Frauen die Steinigung sein soll, wie soll dann diese Strafe halbiert werden? Es ist eindeutig klar, dass jene Strafe, die im Koran deutlich genannt ist und halbiert werden kann, die Bestrafung durch einhundert Peitschenhiebe ist und nicht eine Steinigung. Dies wurde unmissverständlich im oben erwähnten 2. Vers der Sure „Nour“ (24) genannt. Ein weiterer wichtige Punkt, der diese These untermauert, ist der erste Vers dieser Sure. Hier wird in einer einzigartigen und einmaligen Weise (was in anderen Suren in dieser Form nicht vorkommt) diese Sure und deren Verse wie folgt beschrieben: „(Dies ist) eine Sure, die Wir (als Offenbarung) hinab gesandt und verpflichtend gemacht und in der Wir klare Zeichen hinab gesandt haben, auf dass ihr euch ermahnen lasst.“
Die Verwendung der beiden Begriffe „Fardh“ (Verpflichtung, Bestimmung) und „Bayyin“ (klar, deutlich) bedeutet hier, dass im Folgenden etwas Unmissverständliches zum Ausdruck gebracht werden soll. In diesem ersten Vers wird also eine Anweisung an jene erteilt, die den zweiten Vers als „missverständlich und undeutlich“ betrachten und deshalb unbedingt die Heranziehung von Überlieferung fordern. Außerdem hat der zweite Vers einen besonderen grammatikalischen Bau. Jeder Satz in der arabischen Sprache, der dieser Form folgt, hat eine exklusive Bedeutung. Dieser Vers könnte wie andere normative Imperativsätze mit einem Verb anfangen, beginnt aber mit einem Substantiv. Eine solche Verschiebung bedeutet im Arabischen, dass der Sprecher die Absicht hat, dem Adressaten etwas Exklusives über den Sinn einer Aussage zum Ausdruck zu bringen.
Aus all diesen genannten Gründen lässt sich schließen, dass die Steinigung aus koranischer Sicht nicht akzeptabel sein kann.
Ayatollah Seyed Abbas Hosseini Ghaemmaghani ist Oberster Rechtsgelehrter.
FAZ link:
http://www.faz.net/s/Rub5C2BFD49230B472BA96E0B2CF9FAB88C/Doc~E031D652433F34393A65C2C28EF053FFE~ATpl~Ecommon~Scontent.html
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