Grußwort

von Ayatollah Seyyed Abbas Ghaemmaghami,

Imam und Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg,

anlässlich des Besuches von Herrn Dr. Seyyed Mohammad Khatami

im Islamischen Zentrum Hamburg am 19. November 2005Ohne dass wir über die Definition der Religion, die die Hauptachse der Religionssoziologie ist, miteinander diskutieren wollen, und ohne dass wir über die unterschiedlichen Sichtweisen des Reduktionismus und des Antireduktionismus urteilen wollen, ob die Religion als eine gesellschaftliche Struktur oder als eine Art des Bewusstseins und der Erkenntnis zu berücksichtigen ist und ob dieses Phänomen wahr oder unwahr ist, können wir nicht ignorieren, dass die Religion immer eine wesentliche Komponente der menschlichen Zivilisationen gewesen ist. Selbst die bekannte und kurze Definition von Taylor über die Religion als „Glaube an geistige Lebewesen“, die eine gänzlich individuelle und auf Kenntnis basierende Definition ist, kann die Teilhabe der Religion an der Zivilisation nicht ignorieren. Deshalb wird uns der Dialog der Zivilisationen sehr schnell zur Notwendigkeit des Dialogs der Religionen führen. Der Begriff des Dialogs leitet uns und richtet unsere Aufmerksamkeit auf Realitäten, und die wichtigste dieser Realitäten ist das Phänomen des Pluralismus. Der Dialog der Religionen gewinnt mit der Akzeptanz der Unterschiedlichkeit und religiösen Vielfalt Bedeutung. Zweifelsohne strebt der Dialog wie jede andere Tat und jedes vernünftige Verhalten ein Ziel an. Das erste und wichtigste Ziel des Dialoges ist das Erlangen von Verständnis und das Verstehen des Anderen. Selbstverständlich muss Verständnis das wichtigste Ziel des Dialogs der Religionen sein. In der Atmosphäre der Vielfalt und Verschiedenheit gibt es nichts Notwendigeres als gegenseitiges Verständnis und Verstehen, insbesondere unter Berücksichtigung des Einflusses, den die Religionen auf die gesellschaftlichen Strukturen haben. Das erwähnte Wilfred Smith, wo er sagte, dass Dialog und gegenseitiges Verständnis der Religionen letztlich ein besseres gesellschaftliches Verständnis bewirken werden. Verständnis und Verstehen haben unterschiedliche Ebenen und Stufen, und die wesentliche Frage lautet, wie weit soll der Dialog der Religionen fortschreiten, und welche Stufe von Verständnis ist das Ziel dieses Dialoges? Anders gesagt: Was sind das Konzept und der Maßstab für dieses Verständnis? Für die Beantwortung dieser Frage ist ein breit gefächertes Diskussionsfeld in den wissenschaftlichen Debatten und der Darstellung der verschiedenen Meinungen und Theorien entstanden, und selbst beim Zweiten Vatikanischen Konzil am 21.11.1964 wurde in diesem Zusammenhang die Erlösung auch auf Nichtchristen erweitert und interpretiert. Bisher wurden verschiedene Theorien als Konzept für das Verständnis der Religionen präsentiert. Alle diese Theorien konnten diese Aufgabe einige Schritte voranbringen, aber es ist ihnen nicht gelungen, die Gesamtmeinung oder zumindest die Meinung der Mehrzahl der Anhänger der Religionen zu überzeugen. Vielleicht besteht eines der wesentlichsten und wichtigsten Hindernisse für einen Konsens darin, dass ungeachtet aller Bemühungen und des Engagements seitens der Theologen im Kontext der vorhandenen Theorien ein wichtiges auf dem Glauben basierendes Problem für die religiösen Menschen ungelöst geblieben ist, nämlich das Problem der Wahrheit und Richtigkeit. Das bedeutet: Die präsentierten Theorien haben entweder den anderen Religionen die Wahrheit abgesprochen, oder die Wahrheit einer Religion bewiesen oder aber letztlich und endgültig die gleiche Wahrheit aller Religionen bewiesen. Hier wird deutlich, dass das Problem der Glaubenswahrheit für die Anhänger der verschiedenen Religionen nach wie vor besteht. Jedes Konzept zum Verständnis der Religionen muss diese Fragen der Gläubigen beantworten; inwiefern kann z. B. ein Christ, der gleichzeitig die Anhänger der anderen Religionen als seine Geschwister ansieht, noch immer an der Taufe festhalten? Oder warum soll und kann ein Jude, der an die Thora glaubt, oder ein Muslim, der an den Qur’an glaubt, seinem Glauben treu bleiben, obwohl er mit den Anhängern der anderen Religionen in Freundschaft und Frieden lebt? Offensichtlich müssen wir ein Konzept und Verständnis für die Religionen finden, das auf der höchstmöglichen Verständigungsebene auch das Problem der religiösen und gläubigen Menschen berücksichtigt. Die konfessionelle und religiöse Verantwortlichkeit ist das wichtigste Problem der Gläubigen ihrer jeweiligen Religion. Jeder Jude, Christ und Muslim fühlt sich verantwortlich, seine religiöse Tradition zumindest seinen Kindern und der nachkommenden Generation weiterzugeben. Der Qur’an, der dem Glauben der Muslime zufolge die Wahrheit der göttlichen Botschaft ist und den höchsten Grad an Heiligkeit aufweist, spricht über die größtmögliche Einheit der Religionen, und im Qur’an wurde der Begriff Islam grundsätzlich für alle Religionen verwendet, und damit ist die einheitliche Substanz und das einheitliche Wesen der Religion gemeint. Aber wenn von der einheitlichen Substanz der Religionen die Rede ist, ist darunter nicht genau das zu verstehen, was manche Hegelkenner von dessen Theorie dargestellt haben, wonach die Religion eine vernünftige Gestalt und einen allumfassenden Geist aufweist, der im Laufe der Geschichte allen Religionen erschienen ist, und woran jede Religion teilhat. Wenn wir auf der Grundlage derartiger Definitionen und Interpretationen von der Religion den Dialog und letztlich das Verständnis zwischen den Religionen einordnen möchten, können wir möglicherweise auf der Ebene derGelehrten Erfolge erzielen. Aber solche Theorien, die eine hegelsche Interpretation von der Religion darstellen, selbst wenn wir diese um das Zitat von Schleiermacher, dass „jede Religion einen Teil vom wahren Wesen der Religion und der Ganzheit der Religion hat“ erweitern, können ungeachtet des Wertes dieser beiden Definitionen das erwähnte religiöse Problem nicht beantworten. Deshalb können sie unter der Masse der religiösen Menschen und den Anhängern der Religionen keine allgemeine Akzeptanz erlangen. Selbstverständlich muss ein effektiver und funktionsfähiger Dialog die Fähigkeit haben, die Stufe der Gelehrten zu überschreiten und in den Gedanken der Masse und ganz normalen Menschen ihre Wirkung zu erzielen. Jedes Verständnis und Konzept von Religionen soll eine tiefe Freundlichkeit und Freundschaft zwischen den Anhängern der Religion ermöglichen und verursachen, und sie davon überzeugen, dass die Entscheidung, die sie getroffen haben, und die Religion, die sie ausgewählt haben, für sie die beste Wahl und Entscheidung war! Ich betone darauf: Die beste Wahl und Entscheidung für sie! In einem solchen Fall kann der religiöse Mensch, ungeachtet welcher speziellen Religion er angehört und unabhängig von seinen eigenen religiösen Fragestellungen, mit Glauben und Treue zu seinem Bekenntnis und seiner religiösen Tradition mit den Anhängern der anderen Religionen und Konfessionen ein verwandtschaftliches Gefühl entwickeln und wird sie nicht als Fremde wahrnehmen. Im Rahmen dieser zeitlich begrenzten Gelegenheit kann ich mein vorgeschlagenes Konzept für den Dialog und das Verständnis der Religionen nicht ausführlich darlegen. Deshalb fasse ich mich sehr kurz: Aus dem Qur’an kann man ein Konzept herauskristallisieren, das den von mir erwähnten Zustand sichern kann. Wie bereits angesprochen wurde, haben alle Religionen ein gemeinsames und einheitliches Wesen und eine einheitliche Substanz, und das ist der Glaube an den einzigen Gott, an etwas Heiliges und an das Jenseits. Das ist eine gemeinsame Substanz, die den grundsätzlichen Geist der Religionen oder anders gesagt die primären Grundprinzipien und Pfeiler des Glaubens aller Religionen bildet. Neben diesem grundsätzlichen Geist und den Grundprinzipien des Glaubens gibt es Traditionen und Zeremonien, die die Einzelelemente jeder Religion bilden. Diese Diskussion soll auf den Kontext der Glaubenspfeiler und des Glaubens an etwas Heiliges in den Religionen reduziert und begrenzt werden. Es ist kein Problem, über die Rationalität der gemeinsamen Glaubensüberzeugungen miteinander zu diskutieren, und selbstverständlich weisen alle Religionen bei dieser Diskussion Gemeinsamkeiten auf und sind daran beteiligt. Aber wenn die Diskussion in die Rahmen der jeweils besonderen Glaubensüberzeugungen der Religionen übertragen wird, soll das Element der Beweiskraft die Wahrheit ersetzen. Das bedeutet, obwohl z. B. ein Muslim weiß, dass er mit den Anhängern der anderen Religionen viele grundsätzliche Gemeinsamkeiten hat, soll er im Hinblick auf den jeweils besonderen Glauben akzeptieren, dass z. B. der spezielle Glauben eines Christen eine Menge von Aspekten enthält, die seine Verantwortung Gott gegenüber ausmacht, und das ist seine Beziehung zum Heiligen und zum Jenseits. D. h. dieser Glaube hat für den Christen Beweiskraft, er hat davor Achtung und er gilt ihm als heilig. Gleichermaßen ist für einen Juden dessen Glaube und Tradition gültig und für einen Muslim har die Lehre des Qur’an Beweiskraft und eine gültige Heiligkeit. Wenn der religiöse Pluralismus von den Anhängern aller Religionen akzeptiert wird und der Geist des Verständnisses, der Freundlichkeit und der Freundschaft unter ihnen gestärkt wird, werden sie einander nicht als Fremde ansehen und ihre besondere Empfindung und Verantwortlichkeit gegenüber ihrer Religion wird auch nicht geschwächt. Wollen die Anhänger der Religionen aber vollkommen monopolistisch oder sogar inklusivistisch über Wahrheit und Unwahrheit, Richtigkeit und Falschheit miteinander diskutieren, wird das entsprechende Verständnis sicherlich nicht erreichbar und im Gegenteil dazu in manchen Fällen sogar Missverständnisse mehren. Aus diesem Grund können in diesem Dialog nur diejenigen führende Akteure sein, die fern von jeder Art absolutistischen  Denkens und Beanspruchung der absoluten Wahrheit die Sprache ihres Dialogs von der Ebene der Wahrheit auf die Ebene der Beweiskraft verlagern. Gewalt gegen den Anderen resultiert aus einer absolutistischen Einstellung. Bedauerlicherweise gibt es unter den Anhängern aller Religionen und auch unter uns Muslimen absolutistische Menschen, die bewusst oder gedankenlos Gewalt befürworten, und statt eines freundlichen, freundschaftlichen und verständnisvollen Geistes füreinander, säen sie unter den Menschen die Saat der Feindseligkeit und Feindschaft. Wir sind stolz darauf, heute Gastgeber einer Persönlichkeit sein zu dürfen, die als Symbol der Rationalität und religiösen Gemäßigtheit gilt und in deren Anwesenheit wir über den Dialog miteinander Dialog führen können. Herr Dr. Khatami ist eine Persönlichkeit, der im Kreis der Geistlichen mit Betonung der religiösen Wahrheit über die Beseitigung von Gewalt und Fanatismus aus der Religion spricht, und der auf der internationalen Ebene die profunden Gemeinsamkeiten zwischen Zivilisationen, Religionen und Menschen betont, und sein Motto lautet: Diskurs.